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Eine Hosensackgeschichte

Auszug aus dem Buch "Mein Dorf am See" von Josef Camenzind (Herder-Verlag, 1935)
Vielleicht ist dies der Urahn des Gedicht, aus dem der Rosettastein der Dialekte geworden ist ?

"Zeigt eure Hosensäcke!" Niemand rührte sich. Wir tun, als hätten wir nicht recht verstanden. "Zeigt eure Hosensäcke!" erschallt zum zweiten Mal das Kommando. Wir sind wie vom Himmel gefallen. Hosensäcke zeigen? fragt der Benno und der Benedikt und der Max ungläubig. Du heiliger Bimbam! Das ist doch der Gipfel der Weltgeschichte. Der Lehrer wird doch nicht übergeschnappt sein? Der Walti, der Feri und der Wisäli vergraben ihre Fäuste krampfhaft im Hosensack und schleudern ganze Wagenladungen Unmutsblitze zum Lehrerpult.
Ein banges Warten liegt über der Klasse.
Nun beginnt Säckelmeisters Leo seine zwangsmässige Auslegeordnung. Wer nie ein Bub gewesen ist, glaubt gar nicht, was da alles aus Leos Hosensack den Weg zum Tageslicht findet. Eine Zündholzschachtel mit gebrauchten Briefmarken liegt anfangs auf dem Pult. Es sind vier chinesische Marken drin, ferner zwei Brasilianer, ein Türke und eine ganze Kompanie aus den englischen Kolonien. Ich weiss das ganz genau, denn der Leo hat sie mir gestern gezeigt. Hoffentlich nimmt er sie ihm nicht weg, bange ich ängstlich, denn ich will nach der Schule mit Leo Marken tauschen. Von der Mutter Lena, unserer Hausmeisterin habe ich nämlich gestern ein Rudel prächtiger Kanadierinnen erhalten, einige davon doppelt, die will ich für die Chinesen geben.
Doch die Schachtel bleibt einstweilen ruhig auf dem Pult. Es folgen zwei Apfelschnitze, ein rostiges Messer, zwei leere Patronenhülsen, die mit einer Schnur und einem grossen Nagel zum Mörser umgebaut und mit Käpsli geladen, millionisch prächtig an die Mauern donnern. Und zuletzt, beinahe erschrickt der Lehrer, kommt aus dem Hosensack eine richtige, lebendige Blindschleiche.
Leo besitzt zu Hause eine Tiermenagerie, und nun hat er heute auf dem Gang zur Schule dieses prächtige Exemplar von einer Blindschleiche bei Weibels Garten gefunden und kurz entschlossen als "Riesenschlange" für seinen Tierzwinger in den Hosensack gesteckt. "Herr Lehrer!" schluchzt der Leo, und die Tränen rinnen ihm bachweise über die Backen, "sicher, auf Ehre habe ich nichts mehr im Sack. Das Nastuch habe ich halt in den Sonntagshosen gelassen!"