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Zürichtal

 

Eine Bauernkolonie in der Krim

 

Die Tragödie der Aemtler Auswanderer von 1803

Von Marion Weisbrod-Bühler

 

WIDMUNG

Dem Andenken der Zürichtaler, die aus der Wildnis ein

Stück Paradies schufen, um 125 Jahre später durch die

Arglist der Zeit daraus vertrieben zu werden.

 

Bei der Vorbereitung der Ausstellung «Das Knonauer Amt in Dokumenten und auf Bildern», Juni 1961, fand sich eine Notiz, wonach im Jahre 1803 Familien von Affoltern, Bonstetten, Hausen, Mettmenstetten und Ottenbach nach Russland ausgewandert sind. Nachforschungen ergaben, dass in der Zentralbibliothek und im Staatsarchiv Zürich zahlreiche Dokumente, ja sogar Tagebücher aufbewahrt werden, welche über jene Auswanderung Auskunft geben. Die nachfolgende Erzählung berichtet nun über das Schicksal jener tapferen Aemtler bis in die heutige Zeit.
Verlag: Buchdruckerei W. Weiss, Affoltern am Albis (ehemals: Aehren-Verlag)
Der Originaltext hat 60 Seiten; ein Exemplar wird an der
Universität Zürich aufbewahrt.

Der heutige, russische Name für Zürichtal ist Zolotoe Pole

Das Team von Forums9.ch hat vom Verlag die freundliche Genehmigung bekommen, diesen Text im Internet zu publizieren - herzlichen Dank.

 
Eine sehr ähnliche Leidensgeschichte haben schwedische Auswanderer um 1781 in Gammalsvenskby (Ukraine) erlebt (englische Uebersetzung). Kaum die Hälfte der Auswanderer hat die Reise überlebt. - Schwedische Dokumentarseite

 

 

 

INHALT

 

 

I.

Das Privileg

II.

Die Werbung in der Schweiz

III.

Die Auswanderer und ihre Familien

IV.

Der Auszug

V.

Die weite Fahrt

VI.

Die Landreise

VII.

Das verheissene Land

VIII.

Zürichtal

IX.

Grossgrundbesitzer

X.

In Sibirien

XI.

Requiem für Zürichtal

XII.

Quellenverzeichnis

Karte

Karte Halbinsel Krim

Das Privileg


Schon Peter der Grosse, dessen Regierungszeit zwischen 1689 und 1725 liegt, bediente sich fremder Arbeitskräfte, um St. Petersburg zu erbauen, fremder Offiziere, um sein Heer zu schulen und fremder Schiffsbauer für seine Flotte.

Diese Reformbestrebungen wurden von Katharina II, die von 1762-1796 das russische Reich beherrschte, weitergeführt. Sie begünstigte den Handel und zog fremde «artisans» herbei, die das Kunsthandwerk zu hoher Blüte brachten. Unter ihrer Regierung wurden die Gebiete in der Krim dem russischen Reich einverleibt. Die Türkei trat im ersten Türkenkrieg 1768-74 einen Teil des sogenannten Tauriens ab, die ganze Krim aber wurde 1783 erobert.

Zar Alexander I, ihr Enkel, der von 1801-1825 über das Riesenreich gebot, gedachte nun dies Land am Schwarzen Meer planmässig zu besiedeln. Er liess in verschiedenen Ländern Kolonisten werben, die das ausserordentlich fruchtbare Gebiet in «Neurussland», wie es jetzt hiess, bebauen sollten.

In der Schweiz traf diese Werbung wie alle früheren, auf den grössten Widerstand der Regierungen. Bereits 1734 bekämpfte Zürich in einem Mandat die Auswanderung «nach Carolina, Pennsylvania und Georgia und andern englischen Pflanzstätten in America». Fünf weitere Mandate warnten in den nächsten zehn Jahren die Zürcher Untertanen und 1770 erschien ein neues gegen die Auswanderung nach Preussisch Pommern.

Aber nichts konnte die Leute «hinterhalten»,wie es im Mandat von 1734 heisst. Sie wollten ihr Glück in fernen Ländern suchen, denn als Untertanen des Standes Zürich genossen sie zu wenig Freiheiten. Wir folgen den Aufzeichnungen Friedrich Ludwig Eschers, der in der Verteidigungsschrift für seinen Vater, Major Hans Caspar Escher (der sich von Escher nannte, aber ein Escher vom Glas in Zürich war) erzählt:

«Im Jahr 1802 erhielt der Mayor von Escher, welcher damals in dem Markofschen Dragoner Regiment, das im Wilnaischen Gouvernement in Lithauen in Quartier lag, diente, von einem seiner Bekannten aus der Schweiz namens Duggely mehrere Briefe, worin er ihm meldet, dass der ärmliche und überhaupt elende Zustand einer beträchtlichen Anzahl seiner Landsleute (Schweizer) ihn beredt habe, ihrem Wunsche gemäss, sich an den Herrn von Escher zu wenden, mit der Bitte, dass er ihnen in den Reichen Seiner Majestät des Kaisers von Russland ein Etablissement unter den möglichst günstigen Bedingungen auswirken möge!»

Düggeli berief sich dabei auf die prosperierenden Schweizer Kolonien, die im 18. Jahrhundert von einem Neuenburger, Baron de Beauregard an der mittleren Wolga gegründet wurden.

Nach dem Bericht seines Sohnes sei der Vater keineswegs geneigt gewesen, die Sache an die Hand zu nehmen. Erst auf Drängen seiner Freunde im Regiment habe er sich entschlossen, dem Minister des Innern, Graf Kotchonbey deswegen zu schreiben. Während er anschliessend zwei Monate krank lag, sei der Befehl eingetroffen, sich nach der Hauptstadt zu begeben «um daselbst mit dem Ministerio des Innern über die Wünsche seiner Landsleute, welche sich in den russischen Staaten zu etablieren gesonnen wären, in nähere Unterredung zu treten».

Nun wollte der Major aber nicht mehr, da er sich durch seine eben durchgemachte Krankheit sehr geschwächt fühlte. Aber sein Regimentskommandeur forderte ihn auf zu reisen, wolle er nicht seinen Abschied aus dem Militär veranlassen und die «Placierung seiner Söhne unmöglich machen». Seine Söhne, Georg, Friedrich Ludwig und ein dritter taten im selben Regiment wie der Vater Dienst als Fahnenjunker.

So reist er denn nach Petersburg; immerhin bleibt verwunderlich, dass er schon einen fertigen Entwurf für die Colonisation mitbrachte! Das Dokument, in welchem Russland die Rechte und Pflichten der Auswanderer festlegt, ist weder datiert noch gesiegelt. «Es entging den Augen des Mayor von Escher nicht, dass er mit der Zeit eine völlige Umarbeitung dieser Schrift vom Minister verlangen müsse, indem sie nur zu sehr das Gepräge der Eilfertigkeit trug», bemerkt der Sohn dazu.

Der Inhalt besagt: «Seine Majestät, der Kaiser aller Reussen bewilligen allen Schweizern, die sich als Colonisten in allerhöchsten Staaten begeben wollen, folgende Artikel:

I. Es soll an den an das Schwarze und Asowische Meer gränzende Gegenden,- aber auch in Taurien das benöthigte Land zur Ansiedlung der schweizerischen Kolonisten zugestanden werden, nehmlich in den Ebenen zu 60 Dessjatinen -- machen 195 Juchart, für jede Familie. (In den höheren Lagen Tauriens ist es weniger).

II. Es soll einem jeden die freye Ausübung der Religion in allen Stücken verstattet werden.

III. Gedachte Kolonisten sollen einen Vorschuss an Geld sowohl zur Reise als auch zur Ansiedlung von der Krone bekommen . . . nehmlich von 250-500 Rubel per Familie.

IV. Soll jedem frey stehen, sein Vermögen ohne Bezahlung des Zolls hereinzubringen.

V. Seine Kaiserliche Majestät genehmigt, dass die zur Kolonie gehörigen Leute voneinander nicht getrennt, sondern in EINEM Bezirk angesiedelt werden.

VI. Keiner von denen Kolonisten soll wider seinen Willen zum Militärdienst genohmen werden. Im Fall aber so jemand freiwillig in Civil-Diensten treten wolle, so solle er befugt sein, den empfangenen Vorschuss zuvor wieder an die Krone zu ersetzen.

VII. Es soll den Kolonisten erlaubt seyn, Fabriken anzulegen, sowie auch Handlung in- und ausserhalb des Landes zu treiben.

VIII. Allen Schweizern, die in Russland sich niederlassen wollen, soll es frey stehn, in ihren Kolonien ihre eigene Jurisdiction zu halten . . .

IX. und X. befassen sich mit adliger Herkunft, Inhabern von Stellen und Aemtern in der Schweiz etc.

XI. Es soll einem jedem frey stehen, zu aller Zeit und nach Belieben aus Russland mit allem seinem Vermögen, es bestehe worin es wolle, wieder HERAUSZUGEHEN: Er soll befugt seyn, alles was er der Krone schuldig ist und überdem noch eine Abgabe von dem ihm zu seiner Ansiedlung gegebenen Lande zu entrichten.

XII. Alle Kolonisten sollen von allen Abgaben und Auflagen auf 15 Jahre befreyt seyn. Nach Verfluss des 15 jährigen Termins sollen sie verpflichtet seyn, für jede Dessjatine, der bey ihrer Ansiedlung zugemessenen Landes fünfzehn Kopeken an die Krone jährlich zu zahlen.

XIII. Die Abtragung aller von der Krone erhaltenen Vorschussgelder, für welche Seine Kaiserliche Majestät keine Zinsen zu begehren geruhen, fängt mit dem 13. Jahre nach der Niederlassung der Kolonisten an und endigt sich mit dem dreissigsten . . .

Unterzeichnet Comte de Kotchonbey,

Ministre de 1'Interieur

So hiessen die Bestimmungen, die auf schönstem, hellblauen Papier des Innenministeriums geschrieben standen. Uebrigens wurden den deutschen Auswanderungswilligen zur selben Zeit dieselben Privilegien gewährt.

Dass es sich in unserm Fall um «Potemkinsche Dörfer» handeln würde, sollte erst die Zukunft lehren. Als nämlich Katharina seinerzeit im Jahre 1787 die neuerworbenen Gebiete in Taurien kennen zu lernen wünschte, liess der begabte Günstling der Kaiserin raschestens ganze Dörfer dort erstellen, die allerdings nur aus Fassaden bestanden. Gerne aber fiel die Zarin der Täuschung anheim, denn sie liebte Potemkin.


Die Werbung in der Schweiz

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Major Escher aber reist mit seinem Sohn Fr. Ludwig über Wien, wo er sich vom 3.-15. Juli aufhält, und München, 22./23. Juli, um den russischen Gesandten seine Empfehlungsschreiben von der Krone zu überreichen. Auch in Regensburg wird Halt gemacht und Escher trifft einige «Präliminarien-Präparative». Diese bestanden wohl in einer Besichtigung der Schiffe, die seine Auswanderer auf der Donau transportieren sollten. Die Schiffbarkeit des Stromes beginnt zwar schon bei Ulm. Aber da das Gefälle noch ziemlich stark ist, waren für den Verkehr zwischen den beiden Städten spezielle flachgebaute Fahrzeuge in Gebrauch, die sogenannten Plätten und Zillen, eine Art von Flössen, die von Regensburg aus als Frachtkähne nach Wien und die untere Donau weiterfuhren und am Bestimmungsort als Brennholz verkauft wurden. Vergessen wir nicht, dass es damals noch keine Dampfschiffe gab, dass die Fahrzeuge stromaufwärts an Tauen durch Pferde auf beiden Ufern gezogen wurden und dass der Lauf des schiffbaren Teils des Flusses 2645 km betrug.

Bald sind die Vorbereitungen zur Reise erledigt «worauf er sich unverzüglich nach der Schweiz und zwar seiner Vaterstadt Zürich begab. Hierselbst händigte er seinem Bekannten Duggely eine Abschrift der Privilegien ein, damit er sie denjenigen Personen mittheilen könne, welche ihm ein Verlangen geäussert hätten, sich in Rusland niederzulassen. Die Bekanntwerdung der Sache griff schnell um sich, und die Zahl der sich zum Anschliessen an dieser Kolonisation meldenden Familien war in kurzer Zeit sehr beträchtlich. Der Herr Mayor befasste sich jedoch in Zürich selbst nie mit der Sache und war daher erstaunt, als eine Art «Polizeicommission für das Land» ihn gewissermassen aufforderte, sich über seine Operationen bey ihr zu erklären oder gar zu legitimieren.»

Nun war also die gestrenge Zürcher Regierung der Werbeaktion für eine Auswanderung auf die Spur gekommen. Trotzdem scheint sie den Hilfswerbern Eschers das Handwerk nicht gelegt zu haben, obschon diese irn nahen Küsnacht sassen. Es handelte sich um einen Antonius Braun, (Brun) aus Avers, Graubünden, um Ruppert, einen Zürcher, um Bruppacher und Werder, beide aus Küsnacht und einen Schoch von Stallikon oder Ottenbach.

Mit Datum vom 2. August verfasst der Major zwei Schreiben. Das eine geht an Staatsrat Baron von Bühler, russischen Minister in München. Er erinnert ihn darin an sein Versprechen, vom 21. Juli, die Reise der Auswanderer durch süddeutsches Territorium zu erleichtern, vor allen Dingen mit einem Credit beizustehen. Dieser Herr macht nämlich plötzlich Schwierigkeiten und legt der geplanten Expedition alle möglichen Hindernisse in den Weg.

«Les circonstances et la position dans laquelle j'ai trouvé 1'affaire a mon arrive en Suisse et mon zèle brulant pour les interets de la haute Couronne m'imposent pour le devoir d'expédier encore cette année un Transport de Colonistes Suisses. Mais comme cela doit s'exécuter pour le plus tard dans 5 semaines, le Danube n'étant plus navigable pour telles expéditions après ce terme, il faut que je cherche une somme d'argent suffisante pour 1'effectuer».

Im Brief an Baron von Anstedt, Geschäftsträger Russlands in Wien betont er, wenn die Reisecredite nicht baldigst einträfen, könne die Fahrt dies Jahr nicht mehr unternommen werden. Denn diejenigen Leute, die über eigenes Vermögen verfügten, müssten es erst flüssig machen und gedächten deshalb in einem zweiten Transport im folgenden Jahre nachzukommen. Die Krone solle also für die diesjährigen Auswanderer die Kosten gesamthaft bestreiten, wie sie es übrigens in den Privilegien zugesichert habe. Vom Eintritt Russland bis zu ihrer definitiven Ansiedlung sei ja ein Taggeld von 35 Kopeken pro Kopf vorgesehen.

Aus diesen beiden Schreiben erhellt, dass die Reise von Ulm aus auf der Donau vor sich gehen sollte und zwar hinunter bis zur Mündung des Stromes ins Schwarze Meer. Von dort würde ein Meerschiff die Leute nach dem ca. 30 km weiter östlich gelegenen Hafen von Sebastopol in der Süd-Krim übersetzen.

Immerhin, welch erstaunliches Projekt, dieser Kolonisten-Export in ein vollkommen fremdes Land, das Tausende von Kilometern entfernt liegt und schon fast nicht mehr zu Europa zählt.


Die Auswanderer und ihre Familien

Inhaltsverzeichnis

Wer aber waren nun die Leute, die sich durch die Hilfswerber für die Idee einer Kolonisation im fernen russischen Reich gewinnen liessen?

Von Wallisellen und Seebach, dem Hirzel und Hittnau, aus Aeugst, Affoltern, Bonstetten, Ebertswil, Hausen, Mettmenstetten und Ottenbach stammen sie. Sie alle sind gewillt, die abenteuerliche Fahrt auf sich zu nehmen, um sich in Taurien, das damals in Neu-Russland umbenannt wurde, niederzulassen.

Nur die Zürcher Gemeinden werden von Staatsarchivar Gerold Meyer von Knonau in seinem Buche, «der Ct. Zürich» aufgezählt und nicht einmal er scheint 1844 gewusst zu haben, dass sich auch Affolterer, Ottenbacher und Hittnauer daran beteiligten. Aus den Kantonen Glaris, Solothurn, Freiburg und dem Pays de Vaud stiess ein Trupp dazu, die den Exodus ebenfalls mitmachen wollten, berichtet Fr. Ludwig Escher. Ungefähr 60 Familien meldeten sich, ein Drittel ist im Knonauer Amt beheimatet. Warum wollten aber unsere Aemtler das malerische Albisgebiet verlassen? Die «gnädigen Herren» in der Stadt, die während der Mediationszeit die Herrschaft inne hatten, führten ein gar hartes Regiment. Die Landbevölkerung besass weder Rechte noch Freiheiten, nicht einmal Hase oder Reh durfte gejagt werden, keine Fische durften in den vielen Gewässern gefangen werden, alles gehörte den gnädigen Herren. Als drohende Gefahr stand Napoleons Schatten über dem Schweizerland, die Industrie lag darnieder. Hatten die «Seidenen» in Zürich noch Ende des 18. Jahrhunderts gute Geschäfte getätigt, war dies seit 1801 anders geworden. Die Flor- und Baumwollfabrikation, Strumpfweberei und Florettfabrikation befanden sich alle im Niedergang. Nur noch mit Seidenstoffen (Stapelartikel, Faconnes) und Trame konnte der Handel aufrecht erhalten werden. Doch was spürten die armen Seidenspinner und Weber davon? Ihre Löhne blieben gering, die Teuerung wurde grösser.

Diese unerfreulichen Zustände sollten auf der Landschaft schon im darauffolgenden Jahr zu einem Aufstand führen. Die Landleute verlangten im Bockenkrieg ihre verbrieften Rechte zurück. Auch die Aemtler erinnerten sich ihrer früheren Privilegien, da sie noch als freie Bauern im sogenannten Freiamt, in Affoltern, Zwillikon, in Toussen, Dachelsen und Unter-Mettmenstetten, Rossau und Weissenbach sesshaft gewesen. Blutig wurde der Aufruhr seitens der Stadt unterdrückt, die auflüpfigen Anführer aus dem Amt enthauptet oder erschossen.

Schwere Kontributionen werden den Gemeinden auferlegt, die Leute in den Bockenkrieg ziehen liessen. Statthalter Frick von Maschwanden meldet noch nachträglich Gemeinden, die gebüsst werden sollten und sagt: «Diese Summe dürfte in vorbezeichneter Weise eingebracht werden mit Einschluss von Mettmenstetten, welche Gemeinde noch nicht ganz gedemütigt ist». Kein Wunder, wurde dieser Statthalter von den «Aemtlern mit Jubel abgesetzt», denn noch 19 Jahre später konnten sie diese Schmach nicht vergessen.

Das grösste Kontingent unserer Auswanderer stellt Mettmenstetten. Ordnungsliebend, wie die Gemeinde von jeher gewesen, schreibt sie die Bürger auf: «Verzeichnis der Familien, die 1803 in die Krim ausgewandert sind». Allerdings wird diese Liste erst 50 Jahre nach der Ankunft der Aemtler in der Krim angelegt und so werden drei Familien, die ebenfalls auszogen, nicht eingetragen. Es handelt sich dabei um einen

I. Johannes Lüssi, *1762, der sich am 21. Juni 1786 mit Barbara Buchmann trauen liess. Ihre 5 Kinder, die noch in Mettmenstetten geboren wurden: Heinrich 1787, Elsbeth 1789, Johannes 1792 im Taufregister vermerkt mit dem Zusatz «in der Krimm», Anna 1794 und Hans Heinrich 1797. Die Mutter war bereits 1801 am ,Faulfieber' gestorben. Wahrscheinlich ging Johannes eine zweite Ehe in der Krim ein, aus der ein Sohn Peter stammt.

II. Auch von der Familie Hofstetter wird nur Anna, eine Waise im Dokument selbst aufgeführt, und doch war eine ganze Familie mit einem Vater böhmischer Herkunft ausgereist. Der Vater von Annas unehelichem Kind Franz, *4. IV. 1802 heisst Franz Jakob Werslow aus Plan. Er wurde am 1. Juni 1803 aus dem Distrikt verwiesen und gebüsst, da sie wiederum ein Kind von ihm erwartete. Sie haben also allen Grund zur Auswanderung.

III. Die dritte Familie besteht aus Hs. Kaspar Kleiner * 1761, genannt Mauser-Schneider, seine 2, Frau Barbara Hedinger* 1756 mit 4 Kindern aus erster Ehe. Er war seines Zeichens ein Schneider. Bemerkung « nach Russland».

IV. Hans Buchmann* 1760 und Katharina Kleiner * 1775 von Zwillikon mit Heinrich, getauft am 8. August 1803.

Lesen wir nun aber das Auswanderungsverzeichnis, finden wir folgende Namen:
(* bedeutet Geburtsjahr)

I. Jakob Bär *1764 und Ehefrau Elsbeth Suter *1767. Sechs Kinder, wovon das jüngste erst am 19. Dezember 1802 zur Welt gekommen war. Jakob stammt aus der «Hübscheren unterhalb Rifferswil, die aus zwei Häusern besteht. Ein reizendes Stückchen Erde ist dies, wo der Jonenbach, der sich durch satte Wiesen schlängelt, das Rad in der links gelegenen Mühle treibt, während rechts der Strasse der Bauernhof liegt. Elsbeth Suter kommt aus dem «Grossholz», das ebenfalls zur Gemeinde Mettmenstetten gehört. Sie reisen erst ein Jahr später aus. Der älteste Sohn Jakob *1788 hielt sich in Basel auf und blieb dort.

II. Heinrich Buchmann *1767 und Ehefrau Verena Stehli *1759 mit fünf Kindern aus drei Ehen, das jüngste Johannes, geboren am 4. September 1803. Diese Familie lebte im Weiler «Tachlisen» (Dachelsen)

III. Anna Hofstetter, eine Waise aus UnterMettmenstetten *1777.

IV. Johannes Vollewyder (Vollenweider) *1768 und Ehefrau Elisabeth Habersaat *1773 mit vier Kindern. Hans Ulrich ist am 12. Dezember 1802 geboren.

V. Hans Konrad Wyss *1775 und Ehefrau Katharina Schüele *1764 mit ihrem einzigen Töchterchen Verena, das am 26. September 1802 zur Welt kam.

VI. Johannes Wyss *1752 mit vier Kindern. Der älteste Sohn wird als No. V aufgeführt. Auch sie verlassen die Schweiz erst im September 1804, wahrscheinlich gemeinsam mit Bär's.
VII. Rudolf Wyss *1765 und Ehefrau Regina Fasnacht von Reutlingen, Württemberg *1768 mit sieben Kindern, wovon das kleinste Hans Caspar am 14. März 1803 geboren ward.
Alle drei Familien Wyss kommen aus Hefferswil, das im Amt ,Herferschwil' genannt wird. Der Weiler - entzückend gelegen - befindet sich ganz in des Nähe des Dorfes Rifferswil und nur wenige Minuten von der Hübscheren. Dieser Umstand wird im Verlauf der Tragödie noch eine grosse Rolle spielen. Die Zahl der Emigranten wird im Pfarrbuch mit 57 Personen angegeben.

Es folgt die Liste der Auswanderer von Bonstetten, die sich in einem Briefe Statthalter Fricks von Maschwanden fand. Er meldet am 25. September 1803 die Leute nach Zürich. 1823 wird dieser «Statthalter zum gewaltigen Jubel der Bevölkerung abgesetzt», wahrscheinlich wollte er sich durch die vorzeitige Nennung der Leute bei der Regierung in ein gutes Licht setzen.

I. Rudolf Huber, genannt Wagner Rudi *1734, seine beiden Töchter und eine unehelich geborene Enkelin.

II. Caspar Huber Schuhmacher *1763 und Susanna Gilg sein Weib *1763. Von ihren sechs Kindern soll Hans Conrad Huber, ältester Sohn des obgenannten Caspar hier im Lande bleiben!

III. Rudolf Dubs * 1755 und Susanna Huber sein Weib *1766 mit sechs Kindern. Susanna die jüngste ist am 28. August 1803 geboren. Bemerkung: «Heimatlos».

IV. Josobe Gilg *1758 und Barbara Meili, sein Weib *1754 mit sechs Kindern. Lisabetha ist am 21. Februar 1802 zur Welt gekommen. Bemerkung: Sehr arme. Heimathlose Haushaltung.

Hans Rudolf Aeberli * 1774 und seine Ehe Frau Elisabetha Binder * 1774 von Maschwanden mit 2 Knaben Johannes * 1796, Hans Jakob * 8. VIII. 1802.

Aus der Gemeinde Hausen-Ebertswil beteiligten sich zwei Familien am Exodus:

I. Johannes Ringger *1769 aus dem Graben in Husen (noch heute heisst jener Dorfteil so) und Susanna Margstahler *1777 von Ebertschweil mit zwei Töchtern. Elisabetha ist am elften April 1802 getauft worden.

Bemerkung im Haushaltungsrodel: «Ist mit Weib und Kind den 29. September nach der Krim abgereiset, hat aber der Gemeindt gesetzlich Hinterlag für sein Heimatrecht gegeben».

II. Johannes Bär *1771 und Elsbeth Weber aus dem Hauserthal *1770 mit zwei Kindern. Der kleine Paulus ward am 25. April 1802 getauft.

Bemerkung: «ist mit Weib und seinen zwei Kinderen den 28. Sept. 1803 nach der Krimm abgereiset und hat, weil er dem Gesatz kein Genügen geleistet, freywillig sein Land- und Bürgerrecht mit sich weggenohmen».

Johannes Bär zog mit 16 Jahren in holländische Kriegsdienste. Er kehrte 1797 zurück, um sich zu verehelichen. Die Bärs und Ringgers waren doppelt verschwägert.

I. Von Affoltern kommt Jakob Suter aus der Familie der «Chlybuben» *1774 und seine Frau Magdalena Sidler von Ottenbach *1767; aus erster Ehe mit einem gewissen Leutert hatte sie einen Sohn. In zweiter Ehe gebar sie am 24. Juli 1803 Hans Jakob.

II. Johannes Beutler *1774 und Anna Hegetschweiler *1780 von Ottenbach mit den drei Söhnen Heinrich *1800, Johannes *1802 und Hans Jakob *7. Aug. 1803. In roter Tinte steht dabei die Bemerkung: ,In Russiam clam abierunt = heimlich nach Russland ausgewandert.

Auch von Aeugst schliesst sich ein alter Mann an, Thomas Landis *1745, Ehegaumer aus der Wängi. Seit 1801 ist er Witwer. ,Da er ausgehauset, begab er sich zu seiner Tochter gen Ober-Mettmenstetten 1802 und von da, 1803 in Novbr. (?) verreisete er mit den Ober-Mettmenstetteren in die Crimm um sich da niederzulassen'.

Aus Ottenbach gebürtig gesellte sich eine einzige Familie zu den Auswanderern. «Hans Jakob Gut ein Schmied *1774 und Magdalena Sulzer von Oberhasle copuliert 1796 in Meyringen sesshaft, wo Sie eine Lehen-Schmitte bewirbt. Diese Haushaltung wovon der Mann anno 1803, wenn ich nicht irre, zu Mettmenstetten auf der Schmiede verauffahlt wurde (fallierte), ist den 30. September 1803 nach Taurien emigriert.»


Der Auszug

Inhaltsverzeichnis

     

Affoltern

Aeugst

Obfelden

Ottenbach

Mettmen-
stetten

Bonstetten

Hausen

Rifferswil Hedingen Knonau      

Durch die Ottenbacher Datumsangabe haben wir Kenntnis vom Tag der Abreise. Wahrscheinlich sammelten sich alle Aemtler Auswanderer in der Nähe Bonstettens und zogen gemeinsam - vielleicht in Begleitung des Hilfswerbers Schoch nach Konstanz. Wie wir ja sahen, machten sich die Leute von Ebertswil bereits am 28. September, die Familie Ringger von Husen am folgenden Tag auf, um rechtzeitig mit den Andern aus dem Knonauer Amt die weite Fahrt anzutreten.

Das Wetter am 30. September 1803 war in Basel trocken, am Vormittag etwas wolkig, nachmittags wolken.los. Die Temperatur allerdings ungewöhnlich niedrig. Das Tagesmittel betrug 4,5 Grad und entspricht dem Durchschnittswert von Mitte November. Normalwert wäre 13 Grad gewesen. (Freundliche Mitteilung der Wetterwarte der Universität Basel, die schon dazumal ihre Beobachtungen notierte.) Für unsere Gegend dürfen wir sogar mit einer noch tieferen Temperatur rechnen. Somit stand schon der Auszug unter der «kalten Sonne Russlands».

Inzwischen waren Escher, Vater und Sohn nicht müssig geblieben. Fr. Ludwig richtet in Konstanz die Sammelstelle für die Leute ein. Da aber dort «eine Garnison des deutschen Kaisers liegt, so hielt ich es nicht für einen schicklich Depot und besah das ehemalige Stift Petershausen, das an Churbaden gehört und ganz öde und verlassen steht, wo also Raum und Gelegenheit wäre. Die Briefe an die Gesandten in Stuttgart und München besorgte ich». Es handelt sich um die vorher zitierten vom 2. August des Vaters.

Das KIoster Petershausen, ein Benediktinerstift, war 1802 aufgehoben worden, es liegt am rechten Ufer des Rheins. Eine Brücke führt von Konstanz hinüber. Wahrscheinlich war dieser verlassene Ort der Sammelplatz für die Familien, die aus verschiedenen Kantonen nach und nach eintrafen.

Die Tagebucheintragungen lassen erkennen, dass es den beiden Anführern wohl bewusst war, dass die hohe Regierung in Zürich ihr Projekt verhindern würde, falls die Leute im Kt. Zürich zusammenströmten. Scheinbar wurde auch die Post des Majors durch die Polizei überwacht, sonst hätte er ja die Briefe - in Zürich datiert und verfasst - auch dort aufgeben können.

Am 30. August notiert Fr. Ludwig: «Dieser Monat verfloss unter Beobachtung der Stimmung für die Kolonie, die sich nach und nach bilden sollte».

Unterdessen versucht Vater Escher weiterhin Geld flüssig zu machen und vor allem Credite für das Wagnis der Reise zu erhalten. Sobald die Leute auf russischem Boden angelangt sein würden, hätte Russland die ganzen Kosten zu übernehmen. Er verhandelt wieder mit dem Banquier Schöps in Wien. Jetzt meldet aber Baron von Anstedt den Empfang «einer Finanz» und lässt unsere Schweizer im Glauben, ihre Expedition würde wie diejenige des ,russischen' Commissärs Ziegler, ebenfalls «thätigst unterstützt». Es sollte sich auch diese Versicherung als ein Schachzug erweisen. Da eine sichere finanzielle Grundlage fehlt, wird die Abreise immer wieder hinausgeschoben.

«12. September. Da man die nöthige Unterstützung für diesen ersten Transport hoffen konnte, entschlos man sich, 240 Köpfe aufzunehmen, und noch dieses Jahr mit ihnen abzugehn, um den (russischen) Ministeri zu zeigen, dass die Unternehmung glücklich réüssieren werde und dem ganzen (Ministerium) mehr Zutrauen zu der Sache einzuflössen» sagt Fr. Ludwig. Aus dieser Notiz geht klar hervor, dass auch Escher an der Hilfe der Russen zweifelte, und von ihren ehrlichen Absichten nicht überzeugt war. Immerhin hoffte auch er, sie würden -- einmal auf der Reise -- sicherlich nicht im Stich gelassen, brachten sie doch Kolonisten in das riesige russische Reich, die den Anbau der neuen Gebiete fördern und damit zum Ruhme der Krone mitwirken würden.

Unerbittlich drängt die Zeit. Jetzt, sofort musste man aufbrechen, sollte die Donau noch schiffbar sein. Wie Escher schon in seinem Brief an Baron von Bühler festgestellt hatte, dürfe man nicht länger als bis zum 10. September zuwarten, um per Schiff die Reise anzutreten. Und nun war es bereits Oktober geworden und noch immer sass man in Konstanz. Es bleibt keine andere Wahl: Das Wagnis ist zwar gross, die Leute hatten sich aber eingefunden und sind ungeduldig. Die Abreise wird beschlossen.


Die weite Fahrt

Inhaltsverzeichnis

«Den 4. October gieng sonach ein Transport von Kolonisten von Constanz, dem Sammelplatz ab: Ich machte die Reise als Oberaufseher mit» erzählt Fr. Ludwig, und schliesst hier den ersten Teil seines Tagebuches ab: Der zweite beginnt ein halbes Jahr später und trägt die Ueberschrift:

Wen des Lebens Dramen gewöhnten
Unglücksfälle geduldig zu tragen
Und mürrisch das Joch nicht abzuschütteln
Ist klug

Wie oft sollte er sich nicht dies weise Wort Juvenals, der die Fehler der Römer zu Beginn unserer Zeitrechnung so manchmal gegeisselt hatte, in Erinnerung rufen. Fahnenjunker Escher ist in jeder Beziehung ein hochgebildeter Mann, beherrscht neben seinar Muttersprache, das Russische, Französiche und Lateinische vollendet, interessiert sich für technische Neuerungen, wie sein Projekt «über die Errichtung einer Baumwollenfabrik in der Krimm» sowie die Anwendung eines Pfluges der eine rationellere Bodenbearbeitung verspricht, beweisen.

Item, die weite Fahrt beginnt. Ueber den Bodensee gelangen unsere Kolonisten erst nach Meersburg, von dort nach Ulm. Ob sie Fuhrwerke zur Verfügung hatten, ist leider nicht aufgezeichnet, ist jedoch anzunehmen, wie wären denn die Mütter mit den vielen kleinen Kindern sonst gereist?

Wir folgen nun dem Rechtfertigungs-Memorial, das Major Escher am 24. November 1805 dem Innenministerium in Petersburg unterbreitete, in dem er die Schwierigkeiten seiner Kolonisationsreise darlegt.

Schon in Ulm türmen sich die Hindernisse, denn als Escher die Bereitstellung von 2 Plätten für die Donaufahrt verlangt, erklärt ihm der Schiffsmeister kaltblütig, er habe ein absolutes Verbot erhalten, ihm Schiffe zur Verfügung zu stellen, und zwar direkt von Residenten in Regensburg. Drei Tage vergehen, bis er endlich seinen Weg fortsetzen darf. Unterdessen muss er seine Leute verköstigen. Folge: «une dépense inutile » .

In Regensburg wiederholt sich dasselbe. Der Resident will Escher gar nicht empfangen, statt dessen werden etliche Kolonisten vorgelassen. Der Resident gibt eine «schreckliche Schilderung des Landes, in welches sie geführt werden sollen. Er verhehlte in seiner Erzählung die tyrannische Regierung in Russland nicht, und räth ihnen, alle ihre Gefährten aufzufordern, nach Hause zurückzukehren». Durch diese Männer, die von Klüpfel, dem russischen Gesandten empfangen wurden, vernimmt Major Escher von dessen Erzählungen. «Er stellte ihnen die Heimkehr anheim und munterte sogar einige schlechte Subjecte auf, sich von der Kolonie zu trennen, wozu sie jedoch nicht zu bereden waren.

Späterhin sah er sich gezwungen, da ihn die Leute dringendst baten, einige auszuschliessen, da sie thörichte Geldforderungen machten».

Die Notiz erklärt, weshalb er selbst immer von 247 Emigranten, der Sohn hingegen nur von 233 Personen spricht. In seiner Rechtfertigung wollte Escher eben die grossen Kosten mit der Zahl der Auswanderer belegen.

Diese «thörichten Geldforderungen» müssen wir noch ein wenig unter die Lupe nehmen. Der Waadtländer Cuenod, einer der Mitreisenden, der von Pressburg aus nach Zürich floh, sagte vor dem Rat folgendes aus: Schon in Konstanz habe Escher wissen lassen, er sei momentan nicht bei Kasse, da er das Geld erst im kommenden Frühling erwarte. Wollten aber die Auswanderungslustigen die Reise doch jetzt wagen, sollte ihm jede Familie 10-15 Louis-d'or leihen. Man erklärte sich einverstanden und Escher bestritt aus der geliehenen Summe die Tagesrationen von einem Pfund Brot, einem halben Pfund Fleisch und vier Kreuzern Taschengeld. Mit Recht habe der Resident in Regensburg das ganze Unterfangen, jetzt - im beginnenden Winter die Donau hinab zu fahren - als Wahnsinn bezeichnet. Deswegen hätte er jede Hilfe verweigert und nur durch Aufbietung all seiner Ueberredungskunst sei es Escher gelungen, die Leute zur Fortsetzung der Reise zu bewegen. Auf dem Wasserweg geht es weiter bis Wien, wo unsere Auswanderer am 2. oder 4. November eintreffen. Sofort begibt sich Escher zum Baron von Anstedt, denn er benötigt dringend des Geldes, um seine Expedition weiterfinanzieren zu können. Doch der Gesandte Russlands denkt nicht im Traum daran, diesen tollkühnen Plan zu unterstützen und weist ihn an andere Leute. Auch Banquier Schöps ist nicht gewillt, sich in dies Abenteuer einzulassen (zu Unrecht trägt er wohl seinen Namen, der Schafskopf bedeutet). Verzweifelt wendet sich Escher neuerdings an Anstedt: «Si Mr. le Charge d'Affaires a mon arrivée à Vienne m'aurait accorde les 1660 Ducats demandes, nous aurions eté le 4me novembre à la frontiere russe», stellte er resigniert fest, obschon dies als grosse «Untertreibung» erscheint.

Die Sache sieht sehr bedenklich aus. Die Leute werden zu 30 und 40 in kleinen Herbergen untergebracht, kärglich verpflegt, und warten ängstlich der Dinge, die da werden sollen.

Escher macht dem Gesandten Vorwürfe, er habe einige Tage früher einen deutschen Kolonistentransport und einen solchen von Italienern durchgelassen, warum er ihm dies Recht verweigere, da er ja nur Schweizer und keine andern Staatsangehörigen bei sich habe. Dies sowie der Brief vom 18. Dezember, den Anstedt an die Krone sendet, erbittert unsere Emigranten besonders. In letzterem (wird in Eschers zweitem Memorial an das Innenministerium zitiert) heisst es: «Aus Erbarmen mit dem elenden Zustand dieser Kolonisten und damit von Leuten, mit russischen Passporten' nicht die Zahl der Bettler oder Strassenräuber in Wien vermehrt werde, habe er endlich eingewilligt, ihnen 6000 Gulden zu geben». Seine Schweizer «Strassenräuber» zu bezeichnen, beleidigt den Leiter, der den Entwurf des Schreibens vielleicht schon damals zu Gesicht bekam - sowie die armen aber ehrlichen Menschen aufs tiefste. Fr. Ludwig bemerkt in seiner Verteidigungsschrift für den Vater, beide, Klöpfel und Anstedt seien, obschon Geschäftsträger des russischen Reiches von einem unüberwindlichen Hass gegen jenes Land besessen gewesen und hätten jede Gelegenheit benutzt, Russland zu schaden, z. B. eben keine Kolonisationsprojekte zu unterstützen. Ueberdies hätte man es in Anstedt mit einem schwedischen Ueberläufer aus dem Russisch-Schwedischen Krieg von 1788-1790 zu tun, der zwar Inhaber des berühmten Wladimirordens, aber wie Klüpfel ein schlechter Charakter sei. Niemals sei persönliche Feindschaft gegen Escher der Grund der Verweigerung finanzieller Hilfe gewesen, sondern nur ihre Empörung gegen Russland, von dem sich die zwei zu wenig geehrt gefühlt hätten.

Während aber die beiden Escher durch die Geldbeschaffung vollkommen beansprucht sind, beginnt es unter den Schweizern zu gären. Sie verlangen vom Expeditionsleiter die Rückerstattung der geliehenen Summen, oder wenigstens die schriftliche Zusicherung, dass dies baldmöglichst geschehen werde. Beides schlägt der Major ab. Wahrscheinlich waren es die Freiburger, Solothurner und Glarner, die sich in Wien Arbeit suchten, denn nur noch von Zürchern hören wir später.

Nun, da Escher im letzten Moment doch noch finanziert wurde, besorgt er unverzüglich Schiffe für die Weiter-Fahrt, Donau abwärts, die am 24. November angetreten wird. Wie mag es den armen, unglücklichen Menschen zumute gewesen sein, als sie auf dem Wasser neuerdings einer gänzlich ungewissen Zukunft entgegen trieben? Wieviele bereuten wohl, dem Werben der Schoch und Konsorten Gehör geschenkt zu haben, die ihnen vielleicht goldene Berge in Aussicht gestellt hatten? Doch Rückkehr kam nun nicht mehr in Frage, besassen sie doch nichts mehr und sich als Bettler in die alte Heimat durchzuschlagen; dazu waren sie zu stolz. Auf Gedeih und Verderb hatten sie sich wiederum dem schwankenden Schiffsboden und einem Leiter, der dieser Sache nicht gewachsen war, anvertraut. Wer weiss, heiterte die pittoreske Fahrt auf der uralten Wasserstrasse die Heimwehkranken auf oder verstärkte jede Meile, die sie weiter von der Schweiz wegtrug, die Sehnsucht?

In einigen Tagen läuft das Schiff bei Pressburg ein. Hier aber überlassen der vorerwähnte Cuenod und Pfister Irminger, der Bäcker aus Zürich, die Kolonisten ihrem Schicksal und fliehen. Schier unüberwindliche Schwierigkeiten warten jetzt der Auswanderer. Sei es, dass bei Winters Beginn die Schiffahrt auf der Donau eingestellt wird, sei es, dass der Stadtkommandant von Odessa, der Herzog von Richelieu, ein Verbot der Weiterreise erlassen hatte - item die Reise zu Wasser findet hier ein brüskes Ende. Armand Emmanuel du Plessis; Enkel des Cardinals - in russischen Diensten stehend -, der 1805 zum Generalgouverneur von Odessa ernannt wurde, spielte dazumal eine wichtige Rolle, da er die Mündung der Donau bei Sulina kontrollierte. Vielleicht war der Herzog durch Anstedt oder den Innenminister Kotchonbey bereits darauf aufmerksam gemacht worden, dass diese Ausländer unerwünscht seien? Auf alle Fälle lässt er das Innenministerium unter dem 19. November wissen, «dass die Kolonisten grosse Forderungen an den Hr. v. Escher haben, da er nicht unterlassen, selbigen alles ihr Geld abzunehmen».

Was nun? Der energische Major befiehlt, die Reise müsse sofort fortgesetzt werden und zwar auf Fuhrwerken das Waagtal hinauf. So rasch als möglich trachtet er nämlich, die russische Grenze zu erreichen, damit ihm von dort aus das Taggeld seiner Schutzbefohlenen zur Verfügung stehe und er ihnen etwas zurückzahlen könne. Wiederum verlassen einige Familien in Verzweiflung die Kolonie, um den Weg in die Heimat unter die Füsse zu nehmen. Die Expedition scheint fast auf die Hälfte zusammengeschrumpft zu sein. Allein unsere wackern Aemtler halten - trotz allem Schweren, das sie bis anhin erlebt haben - dem Leiter die Treue.

 

Die Landreise

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Von Pressburg bis Tyrnau führt der Weg durch eine flache Gegend, von hier das Tal der Waag aufwärts. Eine Strecke von 270 km wird bewältigt. Endlich gelangt der Zug vollkommen erschöpft in einem Landstädtchen an. Schlecht ausgerüstet, wie die Emigranten sind - hatte man ihnen doch erzählt, sie kämen in ein warmes Land, wo die mittlere Jahrestemperatur 12 Grad Celsius betrage - und in Wien wollte ihnen auch auf Bitten hin der Major kein Geld bewilligen, damit sie sich Winterkleidung besorgen könnten - werden sie eine leichte Beute der Krankheit.

«Der Herr Domherr Seliga, Pfarrer zu Rosenberg, ein gastfreygäbiger theilnehmender und guter Mann» bringt nun die ermatteten Wanderer unter. Rosenberg, das wie Pressburg in Ungarn liegt sollte sich seines Namens würdig erweisen

Sind auch unsere Leute nicht gerade auf Rosen gebettet, sorgen doch Domherr, Adel, Bürgerschaft rührend für die unerwarteten Ankömmlinge. Aber ihre Leiden sollten noch lange nicht zu Ende sein.

Kaum angelangt, brechen die Pocken aus. Hauptsächlich die Kinder werden davon befallen, und es waren wohl wenige der Aemtlerkinder, deren 15 ja noch keine zwei Jahre zählten, die diese Epidemie überstanden. Trauer und Verzweiflung ergreifen die Leute, derm. innert kurzer Zeit liegen 30 Menschen auf dem Kirchhof.

Nach dem Tagebuch Fr. Ludwigs waren sie Ende Dezember in Rosenberg eingetroffen. Der Aufenthalt würde viel länger währen, als sich irgend jemand vorgestellt hatte. «Von Pressburg aus durch Ober-Ungarn (ging die Expedition) und überwinterte, da die meisten Kinder von den Pocken befallen wurden und Menschlichkeit ihre Besorgung gebot, in einer Landstadt Namens Rosenberg». Nicht genug kann er die Gastfreundschaft und hohe Bildung der Ungarn rühmen, die mindestens drei Sprachen neben der lateinischen beherrschen.

Den Vater aber bedrücken schwere Sorgen. War der Dezember und Januar ausgesprochen mild gewesen, wurde das Wetter im Februar und März sehr Kühl. (In Basel betrug der Durchschnittswert im Hornung 1,1 Grad (normal 1,3 Grad) und auch der Frühlingsmonat war mit 2,8 Grad statt normal 5,4 merklich kälter als sonst. In Ungarn lagen die Verhältnisse ganz ähnlich, wie die Basler Wetterwarte mitteilt).

Es ist bereits März geworden, das Geld von Anstedt ist aufgebraucht, was soll er tun? Er wählt einen zuverlässigen Aemtler, der mit seinem Sohn nach Petersburg reisen soll, um vom Kabinett die nötige Summe zur Fortsetzung der Reise zu beschaffen. Die beiden machen sich am 8. März auf. Wer war nun der junge Mann, dem diese ehrenvolle Mission übertragen wird? Es ist Hans Conrad Wyss von Herferschwil, der Aelteste des Ehepaares Wyss-Beerli, der am 26. Dezember 1775 geboren ward.

Da wir später nur noch ein einziges Mal von ihm hören, sei hier das merkwürdige Geschick seines Ahnen Ueli Wyss erzählt, der ebenfalls im reizvoll gelegenen Herferschwil aufgewachsen war und sich 1642 in Hedingen aufhielt.

Auszug aus dem Protokoll der Geschworenen (Stillständer) in Hedingen

«Sonntagspolizei und Sittenaufsicht hielten im 17. Jahrhundert die Geschworenen, nämlich: der Untervogt (Kaspar Widmer, der dieses Amt von 1637-1666 inne hatte), 2 Ehegaumer, 3-4 Dorfmeier. Ihre Oberen waren der Landvogt, damals Hauptmann Schlatter, der oberst der Pfarrer» (Hans Jakob Breitinger).

«3. Jenner 1642: Klagwysz fürgebracht worden, wie Uli Wysz, Hans Joggli Wyszen Sohn von Herferswil hinterlassener Sohn (also Enkel des Hans Joggli) Liechtsinnig Wort brucht. Den 15. Jenner, wo man dem H. Huser dem Küfer sin Kind zur Erde bestattet, hat er im Bysyn Felix Spillmanns geredt, er wöll nit bäte, er komme doch nit in Himmel.»

Der Stillstand erkännt: dass der Vogt sammt Pfarrer zu ihm, kehren, ihm syn liechtsinnigkeit untersagen und ihn zum Dorf aus hinweg dahin wisen, wo er erzogen.

Wir sind zu ihm in's Christen Neupuren Hus kehrt, allda wir ihn ernstlich fraget, ob er auch könne das Heilig unser Vater und die 12 Artikel des Glaubens, au die heilig 10 Gebot. Da hat ers ordentlich erzehlt, doch in Erzehlung der heiligen 10 Gebot mithin an einem und andern Wort sich «gestossen». Hernach haben wir ihn gefragt, ob er nit glaube, dass ein Gott sei, im Wäsen einig, dreifach in Person»? Item ob dieser Gott nit sei allwissend gerächt, wahrhaftig in synen Verheissungen? Item, ob er nicht glaube an Uferstehig des Lybs, ein ewiges Leben? Worauf er erklärt, er glaube das alles.

Uff welches wir ihn ermahnt, wyl Gott das bös als ein gerächter Gott ungstraft nit lasse hingehe, so werde ER syn Lichtfertigkeit au gwüsslich an ihm strafen, geschehe es nit hie in Zyt, so werd es geschehe in der zukünftigen Wält.Demnach hend wir ihn ermahnt zur Busse und sonderlich, dass er Gott in seinem Geist bäte, dass ER ihm durch denselbigen wolle syn Herz ändern, uff dass er fürhin mit andere Sinne rede und thüe. Denn das (wie dies) Gott lieb und dem Nächsten erbaulich sei. Letztlich hand wir ihn ermahnt, ohne Verzug noch desselben Tags sich von Hedingen fortzumachen, an den Ort wo er erzogen (worden). Wo er dies alles thue, wenn (dann) gut, wenn aber nit, werde er sy Straf zu erwarte (haben). Er hät sich erbote, gehorsammlich dem nachzukommen».

Derart streng wachte vor 300 Jahren die Kirche über die Sitten der Dorfbewohner, denn die Geschworenen mussten versprechen «Ihr sollen schwören, zum Vordersten die Ehr und Lehr Gottes zu schirmen». Wie stände es heute um uns, wenn wir nicht nur das Unser Vater, sondern auch das Glaubensbekenntnis und die 10 Gebote auswendig hersagen sollten?

Es sind wohl die Nachkommen dieses Uli Wyss, die 1803 ihr Glück in der fernen Krim suchen. Unser Hs. Conrad Wysz und sein Kamerad Escher jun. Unternehm en nach dreitägigen Vorbereitungen den «Abstecher», der sie über schauderhafte Strassen nach dem 1500 km entfernten Petersburg bringen soll.

Ueber den Jablunka-Pass in den westlichen Beskiden, via Krakau-Brest-Litowsk-Wilna-Riga wird in unerhörter Eile gereist. Schon am 26. März befinden sich diese jungen Leute in der Hauptstadt, wo Fr. Ludwig sofort seine Geschäfte an die Hand nimmt. Doch in Russland geht alles langsam. Er muss antichambrieren. Am 22. April lernt er hier den neuen Pflug kennen, den ein gewisser Robertson dem Kaiser vorführt zur rationelleren Furchenziehung. «Am 25. Erhielt ich von der Kolonie Briefe vom 5. April, welchen zur Folge noch keine Abreise bestimmt ist. Welchen seltsamen Eindruck der besondere Geist dieser Briefe auf mich gemacht, fühle ich in dem auffallenden Contrast der dortigen Stimmung und dem hiesigen Stand der Aktion in Rücksicht dieser Kolonie». Also hatte er noch nichts erreicht. Am 26. April liest er in der Zeitung, dass seine Brüder, Escher I und Escher II im Moskauischen Dragoner-Regiment zu Cornets avanciert sind. Traurige Gedanken bewegen Fr. Ludwig, ähnlich denjenigen die Rilke seinen Cornet Christoph - der auch durch ganz Ungarn ritt - sagen lässt: Reiten, reiten, reiten, durch den Tag durch die Nacht, durch den Tag. Reiten, reiten, reiten. Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so gross. Vielleicht kehren wir nächstens immer wieder das Stück zurück, das wir in der fremden Sonne mühsam gewonnen haben?

Selbstquälerisch malt er sich die Zukunft der Brüder aus, während er auf die Audienz bei Graf Kotchonbey wartet. Endlich aber erhält er von der Reichskasse direkt die Anweisung für Geld nach Podolien, das die Expedition ja passieren muss. Die Schweizer machen sich sofort auf nach Rosenberg. Für den Rückweg - meistens zu Pferd - benötigen sie wahrscheinlich nicht länger als für die Hinreise, sodass anzunehmen ist, dass sie innert 18 Tagen wieder dort eintreffen. Damit wäre der Abreisetermin mit dem 24. Mai gegeben.

Der Exodus geht weiter. Fast fünf Monate hatte der Aufenthalt im gastlichen Städtchen gedauert, welches, obschon die Gegend von einer Missernte heimgesucht worden war, den Schweizern brüderlich zur Seite stand. Vielen ist das Herz schwer, gilt es doch Abschied zu nehmen von den Gräbern, in denen 30 ihrer Lieben ruhen. (Die Hülfsgesellschaft sagt zwar in ihrem Bericht, die unfreiwillige Unterbrechung der Reise habe sich vom 4. Dezember bis zum dritten Mai hingezogen, doch muss diesen Daten eine fehlerhafte Lesart zugrunde liegen. Er wurde ja erst 17 Jahre später veröffentlicht).

Zwischen den westlichen und östlichen Beskiden, über die hohe Tatra führt die Route. «Am 8. Juni 1804 kam er endlich (Escher) mit seinen Leuten auf der russischen Gränze an, und setzte-- nach einigen Ruhetagen -- mit selbigen die Reise nach Taurien/Krim fort, die in 40 Tagen zurückgelegt war», erzählt Fr. Ludwig in der Verteidigungsschrift.

(Dass der Zug über Moskau gegangen sei, wo H. C. Escher schwer erkrankt liegen blieb, wie Leo Weisz annimmt, beruht auf einer Verwechslung von Vater und Sohn. Niemals hätte man diesen Umweg gewählt, um nach der Krim zu gelangen. Auch in den Dokumenten des Hofkabinetts wird von der Ankunft im Herbst im Ecaterinonofschen und Nicolajewschen Gouvernement gesprochen). Vielmehr zogen die Kolonisten auf dem kürzesten Weg direkt nach Osten.


Das verheissene Land

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Von neuer Hoffnung beseelt, wandern unsere Schweizer dem verheissenen Land entgegen. Noch haben sie 1000 km zurückzulegen, doch sie glauben fest, bald seien alle Prüfungen zu Ende. Wie sehr sollten sie sich täuschen! Aber nicht umsonst hatte ein Regierungscommissär der gnädigen Herren von Zürich 1799 verbissen gesagt: Trotz und Eigensinn seien ein Hauptmerkmal der Aemtler. Der Beweis wird erbracht. Wenn wir annehmen, das sie pro Tag etwa 25-30 km auf Fahrzeugen hinter sich bringen konnten, wären die 40 Tage, von denen Fr. Ludwig spricht, korrekt. Wahrscheinlich aber dauerte die Fahrt länger, denn sie begegnen immer neuen Hindernissen. Auch in Podolien, dem heutigen Polen, scheint Richelieus Ueberwachungsdienst funktioniert zu haben: Er schreibt nach Petersburg, in Lemberg (Lvov) und Brody seien noch Einzelne zu Eschers Transport gestossen und diese seien gezwungen worden, ihre gesamte Barschaft abzugeben. Wie dem auch sei, der Major hat es wirklich nicht leicht, das nach Podolien gesandte Geld in seine Hand zu bekommen, trotzdem er die Anweisungen der Reichskasse in Petersburg vorweist.

Doch endlich, endlich betreten die Emigranten die heissersehnte Taurische Halbinsel. Noch müssen sie die Krim von Norden nach Süden traversieren. Ueber ein riesiges, ödes Steppengebiet, wasserarm, baumlos und von Salzseen durchsetzt, führt Escher seine Karawanne. Schliesslich erreichen sie das Gut des Generals von Schütz, das etwas oberhalb des 45. Breitengrades, in der Gegend des 35. Längengrades liegt. Nichts ist für die Ankömmlinge vorbereitet, nur Tataren hausen hier in ihren armseligen Flechtwerkhütten, die halbwegs in den Boden eingegraben sind.

Verzweiflung bemächtigt sich der Schweizer. Hier sollen sie siedeln, in diesem trostlosen Gebiet? Soll dies das gelobte Land sein? Es heisst doch, im südlichsten Teil der Krim gebe es Wälder, Täler und Flüsse, Berge und Aecker? Die Sehnsucht nach der alten Heimat, der grünen Gegend am Albis, mit ihren, ordentlichen Dörfern, den Heimen aus Riegelwerk oder Holz, presst ihnen das Herz zusammen.

Um das Unglück voll zu machen, befiel Herr von Escher «kurze Zeit nach seiner Ankunft in Taurien ein hitziges Fieber, welches nach sechs Wochen zum zweiten Mal zurückkehrte und endlich durch das kalte Fieber ersetzt ward, sodass er bis anfangs des Märzmonaths 1805 beständig kränkelte. Während dieser Zeit hatte er das Schicksal der Schweizer Kolonisten ganz aus dem Gesicht verloren und nach seiner Genesung fand er das ganze in einer so völligen Unordnung und nach so schändlichen Grundsätzen administriert, sich selbst aber so beleidigt und gekränkt.» . . , dass er seinen Posten aufgibt.

Wer wird sich nun um unsere Aemtler kümmern? Im rechten Augenblick greift ein gnädiges Schicksal in die beinahe hoffnungslose Lage der armen Leute ein. In der Heimat waren sie nicht vergessen worden! Die Schilderungen der furchtbaren Reise und der Entbehrungen, die sie jetzt zu kosten bekamen, waren unterdessen in die Schweiz gelangt und veranlassten eine rasche Hilfsaktion.

Einer der ersten, der Kenntnis von der Katastrophe in der Krim erhält, ist Pfarrer Hans Kaspar Fäsi 1755-1834. Mit 21 Jahren war er bereits ordiniert worden, nahm 1778 eine Hauslehrerstelle auf Schloss Kyburg an, wirkte ab 1784 in Cleven, kam daraufhin zu Landvogt von Bonstetten nach Nyon (denn die Waadt war ja damals noch Berner Untertanenland) und wurde schliesslich 1797 Pfarrer in Rifferswil. Er hatte sich mit Barbara Hottinger verehelicht und seine Tochter wird später Dr. Johann Jakob Hegetschwiler, den Statthalter und Arzt in Rifferswil heiraten.

Durch die Leute in Herferschwil und Hübschern vernimmt er nun im Sommer 1804 - jedenfalls durch Briefe, die Fr. Ludwig Escher mitgebracht - vom Schicksal der Emigranten. Nicht umsonst ist er nun Dekan, tatkräftig und barmherzig wendet er sich sofort an seinen Schwager, den Stadtarzt Hans Kaspar Hirzel in Zürich. Dieser als Gründer der Hülfsgesellschaft (1799), die sich zum ZieI gesetzt hat: Menschen und Gegenden zu unterstützen, welche durch Krieg und ausserordentliche Naturereignisse geschädigt worden sind, weiss Rat. Er macht «eines der ersten Mitglieder der Regierung» auf die Notlage der Schweizer aufmerksam. Gemeinsam besteigen sie eine Kutsche und fahren ins Bad Schinznach. Dort weilt nämlich - wie unser Regierungsvertreter weiss - ein edler Russe zur Kur. Sie lassen sich bei Staatsrat Golowkin melden und der Graf empfängt sie freundlich, hört ihre Schilderung von den Verhältnissen der verlassenen Kolonisten und verspricht Hilfsmassnahmen. Sobald er in seine Heimat zurückkehre, werde er sich dieser Sache annehmen. Vorgängig sollen ihm die beiden Zürcher Herren Namenlisten der Ausgewanderten, Kinderzahl und Heimatort verschaffen.

Wer war nun dieser Russe? Ein Graf namens Golowkin war nirgends aufzufinden. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Druckfehler in der ersten Erzählung des Neujahrsblattes der Hülfsgesellschaft von 1821, und der Mann hiess Golowin. Ein solcher amtiert als Hofmarschall unter Alexander I und seine Fran eine geborene Prinzessin Galitzyn war die Hofdame der Zarin. Die Familie Galitzyn aber wurde berühmt durch ihre Menschenfreundlichkeit und Frömmigkeit, sodass die Annahme, dass es sich hier um den Hofmarschall handelt, nicht der Grundlage entbehrt. In äusserst mühsamer Arbeit suchen Hinzel und Fäsi die Unterlagen zusammen. Viele Zürcher hatten ja das Land heimlich verlassen, und es erweist sich als sehr schwierig, festzustellen wer alles an dem Exodus teilgenommen hatte. Doch als der Hofmarschall (wahrscheinlich im Herbst) Bad Schinznach verlässt, nimmt er ein ziemlich genaues Verzeichnis der Familien mit sich.

Im Brachmonat des folgenden Jahres, also 1805, schreibt denn auch der Staatsrat an Hirzel: «Es sey nun, was noch gut gemacht habe werden können, geschehen». Das heisst, unsere Schweizer sind aus ihrer misslichen Lage befreit und in eine reizvolle Gegend verbracht worden. Das tatarische Dorf Dschailau wird ihnen zur Kolonisation überlassen. Jede Familie erhält 23 Dessjatinen zur Bebauung.

Inzwischen wurde H. C. Escher in Dschailau nicht nur der Abschied aus dem Militär, sondern auch derjenige als Expeditionsleiter - wegen der allzu hohen Unkosten der Reise - zugestellt. Kaum von seiner schweren Krankheit genesen, verfasst er eine lange Epistel an Baron von Kotchonbey, um jenen von seiner Unschuld am Misserfolg zu überzeugen. Unter anderem fordert er, dass ihm im folgenden Fall Gerechtigkeit widerfahre: «Der Magistrat der Stadt Rosenberg in Ungarn habe ihm eine Waise von 12 Jahren, Emmerich Hyros, Sohn einer ihrer geehrtesten Mitbürger anvertraut, um dessen Erziehung zu besorgen und ihm mit der Zeit eine Stellung zu verschaffen, die seinen Fähigkeiten und seinem Stande angemessen seien. Für diesen jungen Menschen sei er verpflichtet, Gewähr zu leisten. Allein der Aufseher der Krimmischen Kolonie, Hofstetter, habe gut gefunden, ihn während seiner Krankheit (Eschers) wegzunehmen und einem Bauern der Schweizer Kolonie abzugeben». (Hier wird zum einzigen Mal der Name eines Siedlers aufgeführt. Und doch gab es ja gar keinen Hofstetter unter den Emigranten. Es kann sich nur um Franz Jakob Werslow, den Böhmen, handeln, der vielleicht wie Hyros Ungarisch sprach).

Der Mayor verlangt nun, dass ihm der Knabe zur Weitererziehung wieder ausgehändigt werde. Ob er Hyros zurück erhielt, bevor er im August 1805 Dschailau für immer verlässt, steht nirgends aufgezeichnet. Vielleicht nimmt er ihn mit nach Moskau, wo er später bei einer hochgestellten Persönlichkeit lebte, nachdem seine Rechtfertigung in Petersburg nicht angenommen wurde.

Der Sohn hat auch nicht mehr Glück als der Vater. Dieser schickte nämlich Fr. Ludwig - entweder von Rosenberg oder von Russland aus - zurück nach Konstanz, um einen zweiten Emigrantentransport zu organisieren. Wiederum begleitet ihn Hans Conrad Wyss. Die 'Anzeige der allgemeinen Regeln in dem von Seiner Majestät dem Kaiser Allerhöchst bestätigten Plane zur künftigen Aufnahme der Kolonisten' ist in Konstanz ausgefertigt. Sie trägt das Datum des 6. August 1804, ist gesiegelt und unterschrieben von Fr. Ludwig von Escher, Expeditionsleiter. Diesmal sucht er hauptsächlich Handwerker für die Sache zu interessieren. Ausdrücklich betont er aber: «Allein man prüfe wohl, ob man die Bedingnisse zu erfüllen im Stande sey». Das Unternehmen misslingt vollkommen. Etwa 1000 Auswanderungslustige hatten sich bereits in der Stadt am Bodensee eingefunden, aber es mangelt ihnen und Escher am nötigen Geld. Von jenen, die im vorhergehenden Jahr «erst ihr Vermögen flüssig machen müssten, um nachzukommen» hört man nichts mehr. Da die armen Leute in den thurgauischen Nachbargemeinden um ihr tägliches Brot zu betteln gezwungen sind, werden sie von der Kantonsregierung in ihre Heimatorte abgeschoben mit der Begründung: «Da es ziemlich erwiesen ist, dass sich das Unternehmen der Koloniegründung in der Krimm in der Hand von Betrügern befindet, die sich mit der grössten Gewissenlosigkeit die Leichtgläubigkeit der von ihnen Verführten nur sich selbst zunutzen machen.»

Escher Sohn will so rasch als möglich zu seinem Vater zurückkehren um Rat zu holen. Am 7. Oktober schickt er von Wien aus einen Brief nach Zürich: «Theuerste Mutter. In Eile schreibe ich hier ein paar Zeilen und lege zwey Briefe bey, die bei Knopfmacher Waser bei der 'Rose' auf dem Münsterhof, als der Einkehr des Mettmenstetter Botens, abzugeben sind. Sie können dies ohne alle Gefahr tun, da kein Mensch die Briefe als aus dem Ausland kommend erkennen wird. Leben Sie wohl und vergessen Sie nicht ganz Ihren aufrichtigen Sohn F. L. von Escher.» Durch diese Notiz wissen wir, wo der 'Pott' die Episteln der Auswanderer in Empfang nahm, die wohl mit grösster Sehnsucht erwartet wurden im Amt drüben.

Sicherlich waren es Briefe der beiden Familien Bär und Johannes Wyss, die auf diese Weise in die Heimat gelangten. Denn Bärs und Wyssens verlassen die Schweiz ja erst 1804.

Fr. Ludwig aber tritt 1805 zu Petersburg in den Staatsdienst ein. Er arbeitet im Ministerium des Innern, in der Direction Generale des Manufactures.

Zwischen 1805 und 1808 verfasst er die grosse Verteidigungsschrift für seinen Vater, die er mit den Worten schliesst: «So könnte ich doch nicht anders, als dringend jedermann abrathen, Einladungen zu Kolonisationen nach Russland zu folgen oder sich bey, von der Regierung unternohmenen Fabriken-Etablissement engagieren zu lassen.» Vielleicht hofften Vater und Sohn, Zürich würde die «ewige Landesverweisung», die über Hans Caspar verhängt worden war, rückgängig machen. Denn die: Schrift enthält nicht nur die gesamte Korrespondenz Eschers mit dem Minister des Innern, sondern ebenfalls die Abrechnungen für die ganze Expedition. Sie gedachten die Regierung gnädiger zu stimmen indem sie bewiesen, dass er selbst kein Betrüger, sondern der Betrogene gewesen sei. Ein zuverlässiger Freund Fr. Ludwigs bringt dies wichtige Dokument in die Schweiz, begleitet von zwei Briefen. Im ersten erklärt der Sohn der Mutter, aus welchem Grund die Verteidigung in der dritten Person verfasst ist: Um einen möglichst obejectiven Eindruck hervorzurufen. Im zweiten Schreiben an seine Schwester Nannette erzählt er, wie oft er nicht die Briefe aus der Heimat vor sich auf dem Tisch ausbreite, um laute Zwiesprache mit seinen Lieben zu führen. Er leidet an Heimweh und sieht doch keine Möglichkeit, den Boden der schönen Schweiz je wieder zu betreten. Fr. Ludwig zählt 1808 29 Jahre.

Er wird später nochmals auswandern und als Plantagenbesitzer auf Kuba 1845 sterben.

Hans Caspar Escher aber, der sich nach dem finanziellen Zusammenbruch seiner Zürcher Firma im Sonnenhof 1789 als Rittmeister = Hauptmann der Cavallerie nach Russland begeben hatte, machte dort rasch Carriere. Durch Hufschmied Düggeli liess er sich für die Idee einer Schweizer-Kolonie in der Krim gewinnen. Der Fehlschlag seiner Expedition riss nicht nur ihn selbst, seinen Sohn und den Waisenbuben Emmerich Hyros ins Verderben, sondern er lieferte mehr denn 200 Personen einem ausserordentlich schweren Schicksal aus. Sicherlich besass Escher keinen schlechten Charakter, doch wurde auch er - wie viele vor und nach ihm - durch die russischen Versprechungen getäuscht. Vor allem fehlte es ihm an finanziellem Geschick, diese Scharte wird sein Enkel auswetzen. 1831 stirbt Hans Caspar in St. Petersburg. Neuen Glanz verleiht dem Namen der älteste Sohn Heinrich, der einzige der sich geweigert hatte, in russische Dienste einzutreten. Nach allerlei Wechselfällen zieht er nach Amerika, erwirbt ein grosses Vermögen, kehrt später in die Heimatstadt zurück, um sich im Belvoirgut niederzulassen. Sein Sohn Alfred wird den Makel, der auf der Familienehre ruht, austilgen.


Zürichtal

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Ein neuer Stern der Hoffnung leuchtet unsern Kolonisten, seit ihnen etwas nördlich der grossen Handelsstrasse Feodosia-Karasubasar Land zur Bebauung angewiesen wurde. Vorher waren sie durch das sogenannte Vormundschaftcomptoir aufs schändlichste ausgesogen worden. Der Zweck dieser Behörde war, sie zu gesetzwidrigen Vergehungen und Ausschweifungen zu verleiten, Uneinigkeit unter sie zu bringen, worauf sie dann dem Ministerium die Liederlichkeit dieser Leute darzutun gedachten, um dann den Befehl zu erhalten, sie mehr einzuschränken und strenger zu behandlen. Allein dies gelang nur sehr unvollkommen, da der grösste Teil der Leute genügend gesunden Verstand hatte, um aus einem solchen Betragen kein gutes Resultat voraussehen zu können. Zudem, dass sie die Folgen davon (des schlechten Betragens) an einer deutschen Kolonie in der Nähe zu sehen Gelegenheit gehabt und auch im Ganzen eine zu ehrliebende Denkungsart besassen. So sagt Fr. Ludwig, der sich nicht genug entrüsten kann, wie die Vormundschaftsbehörde, zusammen mit dem Herzog Richelieu die Leute um die letzte Kopeke bringt. Das Taggeld, das sie bis zur ersten Ernte erhalten sollten, wird ihnen unter irgendwelchen Vorwänden wieder abgenommen, die Handwerker erhalten keinen Vorschuss für Werkzeuge, etc. An Ostern 1805 ziehen unsere Aemtler in das zwei Meilen vom Krongut des Generals Schütz entfernte Dschailau. Die Auferstehung ist angebrochen. Jeder Ansiedler erhält 23 Dessjatinen Land statt der versprochenen 60 pro Familie. Eine Dessjatine entspricht 1.09 Hektar.

Unverdrossen beginnen sie ihr Tagewerk in dieser einzigartig schönen Gegend. Aus Dankbarkeit, dass die alte Heimat sie in höchster Not nicht im Stich gelassen hat, sondern sich für ihr materielles und geistig-seelisches Wohlergehen eingesetzt, benennen sie den noch zu erbauenden Ort Zürichtal.

In einem Brief an Antistes Gessner gibt Probst Kyber 1839 folgende reizvolle Schilderung seiner Gemeinde. Bis zum Tode Gessners 1843, korrespondierten die beiden miteinander:

«Zürichtal ist von der Natur in mehrfacher Beziehung begünstigt. Es liegt in der Nähe vom nordöstlichen Vorsprung des krimmischen Gebirges, an dem auf demselben entquellenden Bache Jendol. Von Osten her verdeckt dem Wanderer eine lange, den Bach einfassende Hügelkette den Anblick des Dorfes, bis er an deren mit Weingärten besetzten Abhange in dasselbe eintritt. Nach Westen zu liegt es frei und ist schon stundenweit sichtbar mit seinen rothen Ziegeldächern. Gegen Norden begrenzt ein anmuthiges Wäldchen von wilden Obstbäumen, Rüstern, Ulmen, Weiden und Silberpappeln und im Süden entfaltet das benachbarte Gebirge eine wahrhaft liebliche Schweizerlandschaft. Am Bache finden sich Gärten und Wiesen. Er treibt eine Mühle mit zwei Gängen, deren Einkünfte zum Besten der Gemeinde verwendet werden. Das Dorf zerfällt durch die in der Mitte desselben liegenden Hauptgebäude - die kleine Kirche (die erste evangelische in der Krim), das Pfarr- und Schulhaus - in das Ober- und Unterdorf, die beide durch eigene Springbrunnen mit gesundem Wasser hinlänglich versehen werden. Jeder Landwirth hat einen geräumigen Hof, den er zur Stallung vorteilhaft verbauen kann, und nach der Strasse zu mit steinerner Mauer und jungen Bäumen hie und da besetzt hat. Das ist ein kleines Bild von Zürichtals Lage, mit der hoffnungsvollen Farbe der Gegenwart entworfen. Nur hier, am Bergesfluss und nahe am Wald, vom Bach umgrenzt und an laufenden Brunnen konnten die Zürcher eine zweite Heimat finden.»

Doch so sah Zürichtal 1805 noch nicht aus. Die Kolonisten müssen sich vorläufig mit den Hütten der Tataren begnügen. Aber von frischem Mut beseelt, beginnen sie ihr hartes Tagwerk der Urbarmachung. Sie stehen einander brüderlich bei, denn die Not hatte sie zu einer einzigen Familie gemacht. Ob sich wirklich so viele Seidenwinder und Baumwollspinner unter den Ansiedlern befanden, wie der Zürcher Bericht von 1848 und J. Etterlin 1930 besagen, darf füglich in Zweifel gezogen werden, wenigstens unsere Aemtler verstanden bestimmt etwas von der Landwirtschaft, mussten sie doch zu Hause neben Winden und Weben ihr Gütlein besorgen. Dazu lebte ja unter ihnen nicht nur der Schmid Gut von Ottenbach und Wagner Rudi von Bonstetten, sondern auch der Schuhmacher Huber vom selben Ort. Die Bärs stammten nicht umsonst aus der Hübscheren, wo der Jonenbach das riesige Mühlrad trieb. Sicherlich war ihnen das Müllerhandwerk vertraut und alle Frauen verstanden, Bauernbrot zu backen. Die Wyss aus Herferswil waren gescheite, umsichtige Leute, wie wir ja schon bei Hans Conrad sahen, dem einzigen, der bestimmt etwas russisch gelernt hatte auf seiner Reise nach St. Petersburg. Ob er nach seiner zweiten, misslungenen Expeditionsfahrt zu seiner Familie zurückkehrte, wissen wir nicht. Der Name erscheint nicht mehr in späterer Zeit. Aus Mettmenstetten kam auch Mauser-Schnyder, der Flickschneider.

Furchtbar schwer lasten die Anfangsjahre auf den Bauern. Es fehlt vor allem an Saatgut zur Bestellung der Aecker. «Unkundig der Landessprache und Sitte, wurden sie betrogen, und so sie sich Vieh beschafften, vielfältig bestohlen, einzelne gar erschlagen. So kam es, dass in wenigen Jahren die Hälfte der Schweizer auf dem Gottesacker lag» berichtet das Neujahrblatt 1848. Als dazu im Jahre 1812 das «hitzige Fieber» ausbricht und ihm 40 Ansiedler erliegen, wollen unsere Leute fast verzagen. Sie sind so bitter arm, dass sie ihre Lieben ohne Sarg, in ihren zerschlissenen KIeidern der Erde anvertrauen. Denn sie können kein Holz für Särge kaufen, erstens müsste es 3-4 Stunden weit vom Gut eines russischen Adligen geholt und zweitens teuer bezahlt werden. Diese Nachricht beweist, dass die Zürichtaler vorerst in einer unbewaldeten Gegend wohnten. Nur nach und nach vermochten sie Baumbestände anzulegen. Auch von Rebbergen war noch keine Spur zu sehen. So treiben sie denn hauptsächlich Schafzucht und Ackerbau.

Ab 1815, nach Verlauf von 10 Jahren «zahlt ein Hausvater von jeder Mannsperson seiner Familie jährlich einen Rubel Kopfgeld und von jeder Dessjatine 20 Kopeken (also nicht wie von der Krone zugesichert worden war nur 15), wofür indess diss Land vom Zehnten und er selbst vom Kriegsdienst frey bleibt» teilt die Hülfsgesellschaft 1821 mit. Aus dem Jahre 1816 existiert noch eine Einwohnerliste, in welcher neben Zürcher- und deutschen Namen auch die Glarner Tschudi und Schlittler aufgeführt sind. Seit 1806 amtete als Vorsteher Zürichtals Johannes Ringger von Hausen.

Doch zäh und ausdauernd wie die Aemtler sind, bestehen sie die Bewährungsprobe. Nach gutem heimatlichem Brauch hatten sie ihr Dorf, - inmitten dessen sich ein Hügel erhebt - in Ober- und Unterdorf geschieden. In jedem Teil rauscht ein Brunnen. Hielten sie sich nicht treu an ererbte Sitten und blieben trotz aller Bedrückungen ein frommes Völklein? Bereits spricht die jüngere Generation russisch und tatarisch und dadurch wird der Verkehr mit der Umwelt ausserordentlich erleichtert.

Der Getreideanbau wird nun möglichst rationell an die Hand genommen, der Absatz über die Handelsstrasse - die gar nicht weit entfernt durchführt nach Feodosia im Osten und Karasubar im Westen - ist gesichert.

Kaum sind unsere Auswanderer der ärgsten Not enthoben, denken sie an Kirche und Schule. Glücklicherweise wurde die folgende Bemerkung im Pfarrbuch in Affoltern gefunden beim Namen des Johannes Beutler, der mit Frau und drei kleinen Buben sein Geschick in Russland zu verbessern gedachte: Schrieb aus Zürichtal in der Krim dato den 18. April 1818, dass er und seine Frau sich wohl befinde, dass seine zwey jüngeren Knaben Johannes *1802 und (Hans) Jakob *1803 auf der Reise gestorben seyen, dass in der Krimm ihm sey geboren worden eine Tochter Namens Elisabetha und eine zweyte, Katharina, dessgleichen ein Knabe Kaspar..

Sehr sehnlich verlangte er Testamenter Bibeln, Zeugnussen = Katechismus und A.B.C.-Bücher.»

Diesen Brief bekommt Dekan Fäsi in RifferswiI zu Gesicht. Auf dieselbe Bitte bezieht sich die Notiz im Neujahrsblatt der Hülfsgesellschaft von 1821: Die guten Leute hatten im Jahre 1819 (also brauchte der Brief ein volles Jahr, um in die Heimat zu gelangen) an ihre Verwandten jenseits des Albisberges geschrieben und dringend um Bibeln, Gesang- und Erbauungsbücher gebeten. Der verehrungswürdige Dekan Fäsi von Rifferschweil wandte sich an die Bibelgesellschaft, die recht gerne die gewünschten Zürcher Bibeln, denn nach diesen sehnten sich die ehemaligen Zürichbieter, verschaffte.

Wiederum nimmt sich der Herr Dekan der Sache in väterlicher Art an. Zwar ist sein Schwager Hirzel im Jahre 1817 verstorben, doch sein jüngerer Amtskollege Georg Gessner, Pfarrer am Fraumünster seit 1799, weiss Rat. Gessner, der Schwiegersohn des berühmten J. C. Lavater, ist selbst der Gründer und die Seele der Zürcherischen Bibelgesellschaft. Er sorgt dafür, dass nicht nur Bibeln, sondern durch eine private Sammlung Gesang- und Erbauungsbücher geschenkt werden. Ueber Triest werden sie in die Krim gesandt und erreichen 1820 das hocherfreute Zürichtal. Nicht minder dringlich waren die Bitten weiterer Auswanderer um Entsendung eines Pfarrers und Lehrers. Gessner, der eifrige Förderer des Missionsgedankens in seiner Vaterstadt, leitet dies Anliegen an die Basler Missionsgesellschaft weiter. Dort erklären sie sich sofort bereit, einen Prediger, der auch Schule halten könnte, auszubilden.

Heinrich Dietrich, der zuvor Knecht auf einem Gut in Witikon gewesen und als ausserordentlich frommer und begabter Mann gilt, wird in Basel geschult und bereits Ende 1821 ausgesandt «um den Glaubensbrüdern in der Krimm das fast erlöschende Licht des Evangeliums wieder anzufachen. Neuer Muth belebte die Zürichtaler sichtbar, als im Jahre 1822 der erste Pfarrer Heinrich Dietrich aus der Schweiz ankam. Da verbreitete sich rasch eine ganz andere, bessere Ordnung. Dem kleinen Kirchenbau, der kurze Zeit vor seiner Ankunft zustande gekommen war, traten alsbald ein hübsches Pfarrgebäude und geräumiges Schulhaus zur Seite. Ueberall ging Dietrich mit gutem Beispiel voran und rügte mit Strenge eingeschlichene Missbräuche. Besonders verdient machte er sich durch seine Wahl und Bildung eines Schullehrers» so berichtet das Neujahrsblatt zugunsten des Waisenhauses von 1848.

Dank des unermüdlichen Arbeitseinsatzes unseres jungen Predigers blüht das ganze Gemeinwesen rasch auf. Bereits 1810 liessen sich 25 zumeist katholische deutsche Familien ebenfalls hier nieder. Das Zusammenleben der verschiedenen Konfessionen in Zürichtal wird beispielhaft für die gesamte Krim werden.

Dietrich bleibt zwar kaum Zeit, die mohamedanischen Tataren zum Christenglauben zu bekehren, wie es die Basler Missionsgesellschaft zusätzlich gewünscht hatte. Auf ihm lastet ja die ganze Verantwortung für die eigenen Schäflein. Wählte er wohl aus seiner ersten Konfirmandenklasse den künftigen Schulmeister, den er selbst unterrichtet und in sein Amt einführt, damit er die Kinder auf 'Züridütsch' lehre?

1825 soll Zar Alexander I. die Welt verlassen haben. Sogleich verbreitet sich im russischen. Volk die Legende, der Besieger eines Napoleon könne nicht gestorben sein, er lebe vielmehr als Einsiedler in völliger Abgeschlossenheit in den grossen Wäldern des Reiches.

In die Amtszeit Prediger Dietrichs fällt der furchtbare Heuschreckenzug, der eines Sommers jenen Landstrich überfiel und die Ernte eines ganzen Jahres in kürzester Zeit vernichtete: Er tröstete die durch das neue Unglück hart betroffenen Bauern, er richtet sie auf und ermahnt sie, Gottes Willen als fromme, getreue Knechte anzunehmen. Es vergehen nur fünf Jahre und dann steht die trauernde Gemeinde am Grabe ihres geliebten Seelsorgers, der ihnen im September 1827 durch den Tod entrissen wird. Mit 33 Jahren war Heinrich Dietrich abberufen worden.

Jetzt kommt ein lutherischer Pfarrer nach Zürichtal, Pastor Kylius, ein Badenser. Nach und nach waren in der Nähe Zürichtals nämlich auch Kolonien von deutschen Auswanderern entstanden, so Friedental, Heilbrunn und Kronental. Etliche dieser Deutschen hatten sich in Zürichtal niedergelassen, meist Pfälzer, Württemberger und Badenser. Kylius wirkte zwischen 1827 und 1831 dort und geht dann nach Neusatz (österr.-ungarische oder Berner Kolonie?) Ihm folgt nun Probst Kyber, der bis zum Jahre 1858 der Gemeinde die Treue hält. Auch er ist Lutheraner; statt aus der geliebten Zürcher Bibel wird jetzt das Evangelium nach Luthers Uebertragung gepredigt. Wenn Prediger Dietrich einst sagen konnte: «Aus den Hütten der Väter sind ordentliche Häuser geworden» berichtete Kyber: «Die Armut der Väter brachte den Kindern den Gewinn, dass sie unter Entbehrungen - und Beschwerden aufgewachsen - Zufriedenheit und Einfachheit gelernt haben». Unsere Schweizer brauchten dies nicht erst zu lernen, sie kannten ja gar nichts anderes!

1833 und 1834 wird die südliche Krim von Missernten heimgesucht, aber das Gemeinwesen ist unterdessen derart erstarkt, dass es sich von diesem Rückschlag schnell erholt. Anfang der Vierzigerjahre konnten die Zürichtaler 2500 Dessjatinen angrenzendes Land zukaufen. So wächst die Gemeinde bis zum Jahre 1848 auf 74 Hofstellen, mit je 40 Dessjatinen Eigenbesitz an. (J. Künzig in seiner Arbeit über Zürichtal 1956) .

«Die Seelenzahl der Evangelischen beträgt 350, unter welchen sich von dem ursprünglichen Schweizerstamm nur noch 7 Personen befinden»; erzählt Pastor Kyber 1839. Dass es sich hierbei um unsere Mettmenstetter handelt, werden wir gleich sehen. Probst Kyber schickt nämlich 1852 die Zivilstandsnachrichten der Familie J. Vollenweider. Er lebt noch, während seine Ehefrau Elisabeth Habersaat 1839 verstorben war. Auch der Sohn Hans Rudolf und die Tochter Susanna, geboren 1794 und 1798, leben noch. Gestorben sind die Söhne Johannes 1796-1848 und Hans Ulrich 1802 - 1847. Dieser Hansueli hatte; also als Kind von neun Monaten die ganze Wanderschaft von 1803 mitgemacht und überstanden!

Wahrlich dieser Stamm muss aus gutem Holz geschnitzt sein. Johannes hatte sich mit Katharina Kisling in Zürichtal verheiratet und ein Sohn, Hans Rudolf, wird ihm 1834 geboren. Hans Ulrich verehelichte sich früh und ihm werden drei Söhne geboren: Rudolf, Heinrich und Johannes. Nur von letzterem liegt ein Taufschein vor, geboren am 6. Dez., getauft am 12. Dez. 1826.

Warum nun J. Vollenweider aus dem Schweizer Bürgerrecht austrat, ist nicht ersichtlich. Im Verzeichnis der Familien, die 1803 in die Krimm ausgewandert sind» steht nämlich: «Die Familie hat auf das Bürgerrecht Mettmenstetten verzichtet, Urkunde vom 11. November 1854».Dazumal also wurde in Mettmenstetten dies Dokument über die Auswanderer ausgefertigt, wobei dann leider übersehen ward, dass auch Johannes Lüssi und fünf Kinder, Familien KIeiner, Hans Buchmann und Hofstetter-Werslow -er stammt wie der Dichter Adalbert Stifter von Ober-Plan im Böhmerwald - fortgezogen waren. Dies wird noch tragische Folgen zeitigen.

Von allen drei Familien Wyss schweigen die Nachrichten von Zürichtal, vielleicht liessen sie sich in Feodosia oder Friedental nieder (Joh. Künzig bemerkt in seiner Schrift, dass sich drei Schweizer Familien dort, sieben aber an letzterem Ort ansiedelten.) Andere Mettmenstetter aber werden uns wiederum begegnen, so die Bärs, Buchmanns, Lüssis und Vollenweiders.


Grossgrundbesitzer

Inhaltsverzeichnis

Unterdessen war Zürichtal zu einer blühenden Gemeinde herangewachsen und galt mit Recht «als die vornehmste Kolonie in der Krim». Die zweite und dritte Generation «spricht das russische und tatarische schon fertig, ohne es jedoch schreiben zu können» heisst es in einem Bericht. «Dafür lernen sie lesen und schreiben in der deutschen Sprache» und geniessen manche Vorrechte, keine Conscription (Befreiung vom Militärdienst) und eigene Gerichte» weiss G. Meyer von Knonau 1844 mitzuteilen. Musterhaft wird das Gemeinwesen verwaltet, Zürichtal gilt als Vorbild in moralischer Hinsicht wie punkto Schulbildung und Bodenbearbeitung. Ungeachtet dessen nimmt aber unsere Tragödie ihren Fortgang. 1853 bricht der Krimkrieg aus der bis 1856 dauern wird. Die Russen ziehen gegen die Türken, die sich mit den Engländern und Franzosen verbündet haben, zu Felde. Das Versprechen, der Krone in Artikel VI. der Kolonisationsurkunde «keiner soll wider Willen zum Militärdienst genohmen werden» wird einfach missachtet. Auch unsere Zürichtaler mussten wahrscheinlich einrücken, obschon darüber schriftliche Zeugnisse fehlen. Vielleicht war es gerade diese Ungerechtigtkeit, die Johannes Vollenweider bewog, auf sein Schweizertum zu verzichten, da er sah, dass auch Schweizer-Staatszugehörigkeit nicht vor dem Kriegsdienst schützte?

Nur die Mennoniten, die sogenannten Taufgesinnten wurden auch noch nach 1874 vom Militärdienstzwang befreit. Sie gründeten 70 Niederlassungen in der Ukraine. Statt ins Militär wurden sie zu Aufforstungsarbeiten in waldarmen Gebieten aufgeboten.

Der Krieg bringt beiden Parteien eigentlich nur Niederlagen. Die einzige wahre Heldin bleibt Florence Nightingale, die Verwundete und Kranke aufopfernd pflegt. Denn unter den Soldaten ist die Cholera ausgebrochen und rafft Tausende dahin. 1855 war Zar Nikolaus gestorben, sein Nachfolger Alexander II. schliesst 1856 Frieden. Keine der beteiligten Grossmächte hatte einen wirklichen Sieg errungen. Vorwand des Krieges: Russland will die griechisch orthodoxe Konfession in Jerusalem schützen als die Pforte auf dem Oelberg das Lesen der römisch-katholischen Messe erlaubt hat. Wirklicher Grund: Russland will seine Vormachtstellung auf die Pforte des mohamedanischen Konstantinopel, die Jerusalem besitzt, ausdehnen.

Trotz aller Uneinigkeit der Herren dieser Erde bleibt unser Völklein in Zürichtal, das durch seine Lage sehr an das Albisgebiet erinnert, und dessen Bach Jendol der Jone zu vergleichen ist, ein einträchtiges, frommes Gemeinwesen.Unsere Bauern bleiben dem Protestantismus treu, weiterhin amtieren Lutheraner als Geistliche dort. Nun sollen aber alle Kolonien dem lutherischen Kirchengesetz unterstellt werden. Dies führt an verschiedenen Orten zur Trennung von Reformierten und Lutheranern. Erstere wollen die streng hochkirchliche Liturgie, welche die baltisch-deutschen Pastoren eingeführt hatten, nicht akzeptieren. So wird z. B. in Feodosia und Worms-Rohrbach - dem Chutor - eine reformierte Kirchgemeinde zwinglianischer Prägung ins Leben gerufen. Die Pfälzer Auswanderer sind nämlich seit der Zeit ihres Kurfürsten Friedrich des Frommen (1559-1576) dieser Konfession treu geblieben.

Bemerkenswerterweise bleiben aber unsere Zürichtaler ihren lutherischen Pastoren treu, was wohl nicht zuletzt dem wachsenden Einfluss der Württemberger Ansiedlex zuzuschreiben ist, die sich hier niederliessen. Diese Leute führen die Tradition ihrer Heimat, die «Stund», eine Abendandacht ein. Langsam verdrängt die Lutherbibel der württembergischen Bibelanstalt die ehrwürdige Zürcher Uebersetzung, denn jetzt erhalten die Siedler deutsche Traubibeln.

Nichtsdestoweniger wird auch diese Ausgabe fleissig gelesen. Im Gottesdienst aber singen die Zürichtaler die meisten Lieder auswendig von Anfang bis zu Ende und zwar ohne Begleitinstrument. Hier wirkt die Schulung durch Prediger Dietrich nach, der sich um den Kirchengesang besonders verdient . machte.

Zwischen 1858 und 1930 wirken folgende Pfarrherrn in der Gemeinde:

1858-1870: F. A. Thiedemann,

1870-1889: K. Segnitz,

1890-1901: H. Lhotzky,

1901-1907: B. Grundström,

1908-1924: E. Cholodetzky (erschossen 1924)

1926-ca. 1930: J. Seydlitz.

Auch für die Mission zeigen sie eine offene Hand. Nur zu gut erinnern sich die Aelteren, dass ihnen einst in grösster Not die Glaubensbrüder in Zürich beigestanden sind. Ihre Dankbarkeit beweisen sie durch grosse Gaben. Denn jetzt sind unsere Leute aller materiellen Sorgen ledig. Sie besitzen gepflegte Rebberge, treiben Getreidehandel, bebauen ihre Aecker und züchten Schafe. Nicht umsonst wird Zürichtal «die vornehmste Kolonie auf der Krim» genannt. Sie ist Sitz der Probstei (des Pastorates) das 36 Bauernkolonien, die sogenannten Chutora und Stary-Krim, Feodosia und Kertsch die Stadtgemeinden, umfasst.

Dass die Aemtler aber ihre Frauen mit Vorliebe aus dem alten Schweizerstamm wählten; soll kurz dargetan werden am Beispiel der Familie Bär.

I. Generation: Jakob Bär - Elsbeth Suter, dieAuswanderer;

II. Generation: Rudolf Bär - Magdalena Landis (vom Hirzel oder aus Aeugst);

III. Generation: Jakob Fr. Bär - Jakobine Schöner (vielleicht eine Bündnerin);

IV. Generation: Jakob Fr. Bär, Lehrer - Lydia Mantel (aus Elgg, Kt. Zürich)

Auch Brüder und Vettern dieser einen genannten Linie verehelichen sich mit Mädchen aus Zürcher Familien, sodass die Namen Dubs und Wagner, Stutz und Landis in vielen Verwandtschaftsgraden auftauchen.

Da Zürichtal in deutscher Sprache Unterricht erhält, gleichen sich nach und nach die Dialekte an. Mit der Zeit sprechen alle eine Mischmundart von Schweizerdeutsch, Schwäbisch und Pfälzisch.

Schon G. Meyer von Knonau schreibt 1844, dass sich in Abwesenheit des protestantischen Pfarrers, der ja einen ausgedehnten Sprengel zu versehen hat, die jungen Paare auch vom katholischen Geistlichen trauen liessen und umgekehrt, Tatsächlich gab es eine Gruppe katholischer Siedler mit einem eigenen Pfarrer, die später draussen in der Steppe eine neue Kolonie gründeten. Ihr Kirchlein im Dorf aber wird nun den russischen Bediensteten für ihre Gottesdienste zugewiesen. Nichts vermöchte deutlicher zu zeigen, wie grundlegend sich die Verhältnisse geändert hatten. Mussten noch in den 20er Jahren die Kinder der Aemtler als Knechte und Mägde auf den Gütern des russischen Adels dienen, können sich jetzt die Zürichtaler, die zu wohlhabenden Grossbauern aufgestiegen sind, selbst einheimisches Personal leisten.

1860 ist für die Einwohner ein unvergessliches Jahr, wird doch die neue Kirche erbaut, sie steht mitten im Dorf und erhält einen hübschen Kirchturm. Auf einem Hügel gelegen, grüsst sie nun weit über Land nach Westen. Weiter unten entsteht etwas später neben dem Pfarrhaus ein «Konfirmandenhaus», Wir sehen, die Zürichtaler nehmen es ernst mit ihrem Glauben, obgleich sie andern Konfessionen und auch den mohamedanischen Tataren gegenüber sehr tolerant sind.

Um das Jahr 1900 herum soll der gesamte Grundbesitz der Bauern 10'000 Dessjatinen betragen haben. Damals gab es noch grosse Flächen unbebauten Landes in der Nähe Zürichtals, das die Väter für ihre jüngern Söhne erwerben konnten. Diese zogen dann in die Steppe hinaus, gründeten Tochterkolonie, wie Ablesch, Kalai und Tabuldi, die wieder zu eigenen Chutora anwuchsen. Einer dieser Nachkommen nannte ein Gut von 450 Hektaren sein Eigen.

Die Bevölkerungszahl im Mutterdorf blieb lange Zeit ungefähr gleich, etwa 600 Personen lebten in dem blühenden Gemeinwesen. 1825 zählte man erst 74 Familien mit 344 Seelen, 83 Pferden, 603 Haupt Vieh und über 1000 Schafe.

Bis zum ersten Weltkrieg führte unser Dorf ein zufriedenes, einfaches Leben. Der Jendol treibt ihre Mühle, Obstbäume blühen und tragen Frucht, die Aecker ergeben reichliche Ernten, die Rebberge gedeihen. Gärten, Wiesen und kleinere Gehölze breiten sich um die Ortschaft, wahrlich ein Bild des Friedens. Einer der Kolonisten errichtet eine Dampfmühle, denn der Jendol trocknet in den heissen Sommern, die in jener Gegend herrschen, meistens aus,

Jäh sollte dies liebliche Bild zerstört werden beim Ausbruch des ersten Weltkrieges. Russland, das mit Deutschland im Kriege steht, erlässt die 'Liquidationsgesetze', durch die die deutschen Ansiedler ihren Besitz verlieren. Auch in der Krim wird die Enteignung durchgeführt. Die Deutschen (die nun plötzlich als Staatsfeinde gelten) kommen in die Verbannung nach Sibirien. Sicherlich befand sich unter den Vertriebenen auch manche Schweizerin, die infolge der Verheiratung mit einem Deutschen dessen Schicksa1 teilen musste.

Besser ging es vorläufig den Aemtler-Familien. Sie liessen sich ihre Schweizer-Pässe in Petersburg bestätigen, so blieben sie während der Kriegszeit relativ unbelästigt. Wohl wundern sie sich, weshalb ihre Schriften nicht zurückgesandt werden, aber da sie wissen, dass Russland den Schweizern wohlgesinnt ist, beunruhigt sie das nicht allzu sehr. Viele Tausende ihrer Mitbürger lebten ja nun in dem Riesenreich, als Käser, als Aufseher auf den Mustergütern der Fürsten, als Fabrikanten. Das gesamte im Gastland investierte Vermögen betrug an die 700 Millionen Franken. (Berechnung durch den Vicekonsul Etterlin, der lange Jahre in Odessa wohnte.)

Die übriggebliebenen Zürichtaler fühlen sich noch einigermassen sicher, war nicht einer der Ihren vor vielen Jahren Leibgardist des Zaren, Nikolaus II., der seit 1894 herrschte, gewesen?

Eine Schweizer Grossimporthandlung hatte vielen der Schweizer Kolonisten 1916 Identitätspapiere durch ihre Heimatorte besorgen lassen. Diese Firma pflegte ihr Getreide in Zürichtal einzukaufen und kannte ihre Lieferanten genau. Jetzt, wo die deutschen Auswanderer-Güter eingezogen werden, ist dieser Freundesdienst für die Schweizer-Bürger dort lebenswichtig.

Die Revolution bricht aus, Zarenfamilie, Adel und Zehntausende von Burschojs werden hinweggefegt von diesem furchtbaren Orkan, der sich mit Naturgewalt Bahn bricht.

Kurze Zeit beherrschen die «Weissgardisten» -- die konterrevolutionäre Armee-- die Situation in der Krim, aber bald bricht der rote Terror auch über unser friedliches VöIkIein herein. Schon finden in Zürichtal Erschiessungen statt, denen zwei Brüder und ihre Söhne zum Opfer fallen, weil sie nicht gewillt sind, Gewaltmethoden zu dulden. Ein dritter vermag nur durch die Flucht sein Leben zu retten. Nach langen Jahren der Staatenlosigkeit in fremden Landen erreicht er endIich den rettenden Port der Heimat, die Schweiz.

Da sich die meisten Einwohner weigern, bei der Zwangskollektivwirtschaft mitzumachen, wird der Druck verstärkt. Bereits 1926 flieht Arnold Vollenweider mit seinen Eltern nach der Ukraine.

Trotzdem besteht merkwürdigerweise die Kirchgemeinde als solche noch bis 1929. In Mettmenstetten trifft ein «Auszug aus dem Personalbuch des evangelisch-Iutherischen Kirchspiels Zürichtal» ein, worin der Zivilstand der Familie Nathaniel Bär aufgeführt wird, «signiert J. Seydlitz, Pastor des Kirchspiels Zürichtal, den 12. November 1929». Er zählt sämtliche Taufen, Konfirmationen und Trauungen in der Familie, zwischen 1889 und 1922 auf.


In Sibirien

Inhaltsverzeichnis

Im September des Jahres 1929 beginnen die sogenannten «Aussiedlungen». Ein Brief, der auf allerhand Umwegen in die Schweiz gelangt, besagt folgendes: «Im September ist das Ungewitter gekommen. Ich hatte 14 Dessjatinen in Weizen und 6 Dessjatinen in Hafer = 150 Pud, (1 Pud = 1638 kg). Ich musste 222 Pud Weizen und 73 Pud Hafer stellen samt 30 Pud Weizen-Saatfond. Das habe ich alles abgegeben, dann sagten sie, ich sei frei. Nach einer Woche bekam ich wieder Vorschrift, 80 Zentner Weizen und 120 Zentner Hafer abzuliefern. Was war da zu machen? Ich stellte ihnen nochmals 60 Pud Hafer, weiter konnte ich nichts mehr geben. Es dauerte bis zum 26. September, da kamen sie und nahmen (ein Inventar) auf. Sonntag kamen sie (wieder) und versteigerten Haus, Wirtschaftsgeräte, Vieh und Dampf-Dreschmaschine für 900 Rubel. Am andern Tag ging ich in den «Selsowjet», dort sagten sie, ich sei bestraft mit 1200 Rubel, weil ich nicht (das erstemal) alles gestellt habe und jetzt sei ich noch 300 Rubel schuldig. Ich könne hingehen wohin ich wolle! Bis zum 15. Februar ging ich zur Tochter (die weiter westlich wohnte). Alle kamen wir nach Simferopol in die Hospital-Kaserne, dann haben sie uns eingeladen in Waggons, die Thüren verriegelt. So kamen wir im Ural an. Die Tochter starb, die Frau starb, bin auch krank. Gott weiss, ob wir noch einmal zurückkommen werden, man spricht immer davon, dass die Alten zurückgelassen werden.» Dieser Grossbauer, der hier dieTragödie der Zürichtaler in schlichten Worten erzählt, stirbt bald darauf im Ural.

In den Jahren zwischen 1930 und 1933 hat die Gemeinderatskanzlei ein voll gerütteltes Mass an Arbeit. Immer wieder treffen Gesuche um Anerkennung des Schweizer Bürgerrechts ein, sei es via Politisches Departement, sei es via Internationales Comite vom Roten Kreuz. Dieses lässt durch einen Delegierten, der die Notgebiete in Sibirien aufsucht, die besondern Härtefälle (und wer gehörte da nicht dazu) aufzeichnen und in die Heimatgemeinden schicken. Sie erhalten dann, sobald ihre Identität festgestellt ist, Lebensmittel-Rationen durch das Rote Kreuz, die einige vor dem Verhungern bewahren.

Die ersten, die sich melden - und zwar noch aus Zürichtal - sind Johannes, Friedrich und Arnold Vollenweider, deren undatierter Brief «an die Schweizerische Eidgenossenschaft Kanton Zürich» im Juni 1930 in Zürich eintrifft. Die Direktion des Innern muss nun den drei Gesuchstellern mitteilen (Arnold weilt zwar bereits vier Jahre in der Ukraine) dass schon der Auswanderer «Johannes Vollenweider, der 1855 noch am Leben war, am 16. Brachmonat 1855 aus dem Bürgerrecht der Gemeinde Mettmenstetten und des Kt. Zürich entlassen wurde (gekürzte Fassung) .

Dieser Bericht erreicht die Absender nicht, denn sie wurden unterdessen deportiert. Johannes gelangt aus dem Ural nochmals direkt an die Gemeinde und beruft sich auf die Tatsache, dass Familie Näf von ihrer Heimatgemeinde in der Schweiz anerkannt wurde, worauf ihm (wiederum durch Zürich) nochmals die Abschrift des ersten «Urteils» und «dass wir auch heute keine Möglichkeit sehen, Sie als Schweizerbürger anzuerkennen», übersandt wird. Ob er dies Schriftstück je erhielt?

Der eiserne Vorhang senkt sich. Die weitern Geschicke der zwei Brüder sind unbekannt.

Drei Jahre später bringt die Post einen Brief «an den Herrn Pastor der Gemeinde Mettmenstetten»: «Wender an Sie ist der Nachkomme der Eheleute Vollenweider-Habersaat abstammender Glieder der Gemeinde. Wohne gegenwärtig durch verschiedene Beschränkung das 7. Jahr mit meiner alten Mutter von 65 Jahren in der Ukraine, heimatlos. Der Vater starb 1932. Konnte ihn einfach nicht unterstützen. Ich dagegen bin selbst arbeitslos und ganz ohne Lebensmittel. Vielleicht können Sie durch die Gemeinde etwas mitteilen, damit wir in Bälde nicht ganz verhungern. Weiter weiss ich keinen Ausweg. Wenn Sie uns nicht etwas unterhalten würden, bleibt in der Schnelle kein anderer Ausweg als verhungern. Hoffe, dass Sie das Mögliche durch Ihre Gemeinde mitteilen werden und wir es Ihnen durch Gottes Hilfe mal vergüten.» Geschrieben wurde dieser Hilferuf von Arnold, dem dritten der Gebrüder Vollenweider.

Wusste er denn nicht, dass bereits sein Urgrossvater nicht mehr Schweizer gewesen? Doch in Zeiten unsäglicher Not greift wohl jeder Ertrinkende nach einem Strohhalm und hofft und hofft . . . Auch von ihm fehlen seither weitere Nachrichten. Die Gemeinde gibt sich grosse Mühe, in jedem Fall die nötigen Unterlagen zu beschaffen, ihre Akten wachsen auf ein ganzes Dossier an. Für einige Familien gelingt dies auch, weil Pastor Pastor Seydlitz 1929 die Personalien übersendet, die Jahre später eintreffen. Zwischen 1930 und 1933 werden von Mettmenstetten drei verschiedene Familien, alles Nachkommen der Auswanderer, als Bürger anerkannt. Ebenfalls erhalten zwei Töchter, die sich nach 1918 mit «Sowjets» - allerdings stammen beide Ehemänner von deutschen Einwanderern ab, die jedoch Russen geworden waren - verehelicht hatten, das heissersehnte Bürgerrecht. Nach den neuen russischen Gesetzen behält die Frau ihre angeborene Heimatzugehörigkeit.

1931 hatte das Politische Departement in Bern auf die Notlage der Krim-Schweizer aufmerksam gemacht: Gemeinsam übernehmen Bund und Gemeinden je ½ des Kostenanteils bei ungezählten Sendungen an Schweizer. Sie leben nun nicht mehr in dem fruchtbaren Taurien, das ein Riviera-ähnliches Klima besitzt, sondern in Sibirien, welches nur eine kurze Sommerzeit kennt. Stand doch schon in jenem vorzitierten Brief von 1929 zu lesen: «Wenn wir hier über Winter bleiben, was dann? Wir haben keine Kleider für diese Kälte . . . »

Durch Vermittlung des internationalen Comites vom Roten Kreuz gelangt 1931 Salomon Buchmann, Urenkel des Johannes an die Gemeinde. Sämtliche Zivilstandsunterlagen fehlen. Durch eine Auskunft, die glücklicherweise von einer beizeiten in die Schweiz zurückgekehrten Schweizerin beigebracht werden kann, wird bestätigt: Buchmanns hatten im Chutor Kalai eine eigene Kolonie, auch sie stammen aus Zürichtal und sind Aemtler.

Ob ihn die Hilfe aus der Schweiz noch rechtzeitig erreichte, entzieht sich unserer Kenntnis.

Bleibt noch das tragische Schicksal der Familien Lüssi zu erzählen. Als letzte melden sich Johannes und Alexander Lüssi. Ausdrücklich vermerkt das Rote Kreuz hinter beiden Namen die Schreibweise Lüsi mit einem s. Die Brüder erklären, von einem Georg abzustammen, der 1803 in die Krim ausgewandert sei und in Zürichtal gewohnt habe, und zwar mit seinen beiden Söhnen Heinrich und Peter. Da auch sie ihre Pässe im ersten Weltkrieg nach Petersburg einsenden mussten, um ihre Schweizer Identität zu beweisen und der Enteignung von Haus und Hof zu entgehen, besitzen sie keinerlei Ausweise mehr. Leningrad, wie die ehemalige Hauptstadt seit der Revolution heisst, retournierte ihre Papiere nicht mehr. So ist es begreiflich, dass sie den Namen des Ur-Urgrossvaters nicht mehr auswendig wissen, der nicht Georg, sondern Johannes, wie einer der Bittsteller selbst, getauft ward. Drei Wochen lang wird in den Mettmenstetter Zivilstandsakten fieberhaft nach einem Georg gesucht, der sich einfach nicht auffinden lässt. Alle Ehen Lüssi (10) zwischen 1737 und 1804 werden herausgeschrieben, alle Geburten (7) zwischen 1742 und 1805 sucht man hervor, ein Georg ist natürlich nirgends verzeichnet.

Im Taufregister kommt der Name Johannes nur unter dem 22. April des Jahres 1792 vor, mit der Bemerkung «in der Krimm». Das kann aber doch nicht der Auswanderer gewesen sein, vermeint die Heimatgemeinde, obschon sie vermerkt, dass irgend eine Beziehung zu 'Johannes, in der Krimm' bestanden haben muss.

Im Verzeichnis der Familien, die ausgewandert sind, ist ja der Name Lüssi überhaupt nicht aufgeführt. Die Vorfahren können nicht ermittelt werden, das Gesuch um die Anerkennung des Bürgerrechts wird von der Direktion des Innern abgelehnt. Wir begegnen dem Namen nochmals und diese Tatsache erbringt den Beweis, dass die Lüssis wirklich in Zürichtal wohnten.

In Sibirien sind unsere Zürichtaler über das ganze Gebiet des Urals zerstreut worden, nicht zwei der Familien, die sich in Mettmenstetten meldeten, wohnten am gleichen Ort. Nochmals hatten sie auf Wanderschaft gehen müssen, alle jene, welche 1929 «ausgesiedelt» wurden. 2000 Kilometer liegt das neue Land von Zürichtal entfernt, und doch ist es einigen gelungen, ihre Bibeln mitzunehmen und sie vor dem Zugriff der Ungläubigen zu retten. Sie bleibt ihr köstlichster und einziger Besitz.

Einmal entdeckt ein junger Russe eine solche. Auf seine Frage, was das sei, erklärt die Frau wahrheitsgetreu: eine deutsch-geschriebene Bibel. Der Russe, der nur sein kyrillisches Alphabet kennt, kann sie natürlich nicht lesen. (Kyrill aus Saloniki gewann ums Jahr 860 die Krim für das Christentum. Er übertrug die Hl. Schrift in die Landessprache mit griechischen Buchstaben, und diese Schreibart ist bis heute im Sowjetstaat üblich.) Achtlos legt er die Bibel beiseite, offensichtlich hat er keine Ahnung, dass es sich hier um das Buch der Bücher handelt, von dem die neuen Herren nichts wissen wollen, ja deren Zeugen sie ausrotten möchten.


Requiem für Zürichtal

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1939 bricht der zweite Weltkrieg aus. Wiederum steht Deutschland im Feld gegen Russland. Bereits 1941 wälzen sich die motorisierten Truppen des Hitlerreiches der Krim zu. Wie einfach haben sie es im Vergleich zu unseren Auswanderern von 1804, die Distanz von 2000 km hinter sich zu bringen.

Wir folgen nun der Beschreibung J. Künzigs, der 1942 eine Studienfahrt in die Krim unternahm. Seine Ergebnisse veröffentlichte er in «Zürichtal und Schaba, zwei Bauerndörfer im Schwarzmeergebiet», 1956.

Gründlich, wie die Deutschen sind, wird schon 1942 eine Zählung der «Krimdeutschen durchgeführt. Die Wehrmacht zählt und findet nur noch 960 Personen deutscher Zunge. Von den Zehntausenden, die einst die Taurische Halbinsel besiedelten, ist einzig dieser verschwindende Rest geblieben. Beim Näherrücken der Hitlerarmee 1941 mussten die letzten Bewohner ihre zweite Heimat endgültig verlassen und zwar - zu Fuss. Prof. Künzig schreibt:

«Nach Durchquerung der glutheissen, in dem regenarmen Sommer völlig ausgedörrten und baumlosen Steppe bogen wir nordwärts ab und folgten dem fast ausgetrockneten Jendolbach. Nach einer Wegwendung taucht plötzlich und wie eine Oase wirkend ein Dorf auf, das von Baumgärten wohltuend umgeben ist, aus dem freilich kein Kirchturm mehr weithin grüsst, denn er war wie überall in Südrussland, gesprengt. Wir sind in Zürichtal. Aber so viele wir auch fragen in den buckligen Gassen, es gibt hier nur noch Tataren und Russen! Scheunen und Ställe sind grösstenteils abgebrochen. Das gab es jetzt nur noch gemeinsam auf der Kolchose, der Einzelne durfte auf dem kleinen, gartengrossen Hofland ja nur ein Schwein und eine Kuh halten. Die Reben, Wiesen und Baumanlagen verraten noch ein wenig von dem Fleiss der verschollenen Kolonisten.

Mitten im Dorf, von einem Akazienwäldchen umgeben, steht die des Turms beraubte Kirche, die zuletzt den Bolschewisten als Versammlungsraum diente. Ein paar Brunnen auf der breiten Dorfgasse spenden kühles Quellwasser aus den hinter den Höfen langsam ansteigenden Rebhügeln. Da stossen wir am Dorfende auf den Friedhof - und sehen zu unserer Ueberraschung wirklich noch eine Ruhestätte der Toten, die diesen Namen verdient. Denn im Gegensatz zur Ukraine, wo die ehemaligen Friedhöfe eher einem Schindanger glichen, ragen hier immerhin noch viele stattliche Kreuze und Grabsteine auf. Andern Orts hat man diese Grabsteine mit Vorliebe zum Bau von Schweineställen benutzt. Nur weil es hier Bruchsteine genug gibt, nicht etwa aus Gründen der Pietät, hat man sie an ihrem Ort belassen. Nun stehen wir auf der von Unkraut freilich völlig überzogenen und von keiner Iiebenden Hand mehr betreuten Erde, die Hunderte deutscher und schweizerischer Kolonisten deckt. In kraftvoller Schrift sind die Namen eingemeisselt und zwar auf selten schlichtschönen Steinen, in der Regel geschmückt mit dem Sinnbild des Lebensbaumes, eines halben Sonnenrades oder Sechssternes.»

Von den 29 Namen, die Künzig notiert, besitzen 6 schweizerischen Klang und sind uns alle bekannt:

Marks Friederike, geborene Schur. 1814 bis1893. Sie ist wohl die Tochter eines deutschen Siedlers gewesen, die sich mit einem Zürcher oder Bündner verehelichte und fast 80 Jahre alt wurde.

Der zweite Totenhügel gibt Kunde davon, dass hier die irdische Hülle einer Tochter Lüssi begraben ward. Lüse Katharina 1816-1877 steht auf dem Gedenkstein. Diese Inschrift legt Zeugnis ab für die Tatsache, dass sich Lüssis in Zürichtal oft mit einem 's' geschrieben haben. Entweder war Katharina die Tochter von Heinrich, dem ältesten Sohn, oder von Johannes, dem zweiten. Zweifelsohne ist sie die Enkelin von Johannes, dem Auswanderer, dessen Frau Barbara Buchmann aus Tachlisen kam, aber vor dem Auszug verstarb.

Im dritten Grabe fand Anna Pfeiffer, geborene Huber 1821-1875 die ewige Ruhe. Vermutlich ist sie die Enkelin des Schuhmachers oder Wagners Huber aus Bonstetten.

Als vierter erscheint Rudolf Vollenweider, geboren am 22. Oktober 1834, gestorben 1888. Aus den Daten, die Probst Kyber 1854 nach Mettmenstetten sandte, wissen wir, dass er der Enkel von Johannes Vollenweider-Habersaat und der Sohn von Johannes Vollenweider-Kisling ist.

Auf das herzbewegende Schicksal dieser Familie fällt insofern ein versöhnliches Licht, als ein weiterer Vollenweiderzweig, der von hier viel später nach Nord-Ost-Russland zog - ebenfalls alles verlor - nach dem ersten Weltkrieg in die Schweiz zurückkehren konnte und sein Bürgerrecht noch heute in Mettmenstetten besitzt.

Der fünfte Grabstein erzählt uns, dass daselbst Maria Bär, 1848-1893, geborene Marks, Ehefrau des Johann Friedrich, ruht. Als sie sich zum zweitenmal verehelichte, nahm sie wiederum einen Schweizer Landsmann zum Gatten.

Der letztgeborene unserer Zürichtaler, der hier seine Grabstätte fand, ist Heinrich Näff (Näf) 1852-1896. Aus dem Brief, den Johannes Vollenweider um 1929 an 'die Schweizerische Eidgenossenschaft Kanton Zürich' richtete, erfuhren wir bereits, dass auch diese Familie in der Schweiz Heimatrecht besitzt. Auf dem Kirchhof ihrer Wahlheimat ruhen Kinder, Enkel und Urenkel unserer Auswanderer im Frieden des Herrn. Ihre Nachkommen indes sind gezwungen, unter härtesten Bedingungen in Sibirien eine neue Existenz aufzubauen. Viele, allzu viele schlummern schon in der mitleidslosen Erde des Urals. Nur für die Toten ist die Tragödie zu Ende . . .

Die langgestreckte Kette des Uralgebirges, welche die Ueberlebenden vom Westen trennt, besteht in ihrem mittleren Teil aus Porphyr und Granit. Eisen, Smaragde und Amethyste werden aus den Bergwerken dort gefördert. Sind dies nicht alles Symbole steinerner, seelenloser Härte? Erlen, Pappeln, Birken und Espen bestimmen das Landschaftsbild. Endlose Wälder rauschen im frostigen Abendwind. Die Blätter der Espe aber erzittern schon im leisesten Lufthauch des Sommers, der höchstens zwei Monate währt. Erzählt nicht eine Legende, dass Judas, nachdem er Christus verraten, sich an einem Espenbaume erhängte, und dass dieser seither keine Ruhe mehr finde?

Wir aber, die mit Anteilnahme den Geschicken der Zürichtaler, ihren Leistungen und ihrem düstern Los gefolgt sind, wollen einen Augenblick innehalten, um in Ehrfurcht jener Menschen zu gedenken. Der Nachdenkliche wird sich entsinnen, dass gar mancher den Namen Johannes trug. Im ersten Jahrhundert unserer Zeitzählung lebte ebenfalls ein Johannes - auch er ein Heimatvertriebener - der auf der Insel Patmos in der Verbannung starb. Sein Testament ist aufgezeichnet im letzten Buch der Heiligen Schrift, jener Bibel, die unsern Zürichtalern das höchste Gut bedeutete und sie sogar in die eisigen Regionen Sibiriens begleitete.

Wir zitieren nach dem Wortlaut von 1805, derselben Ausgabe, die durch Dekan Fäsi 1819 den Auswanderern zugesandt wurde. Johannes spricht zu allen Verfolgten und Leidenden: «Diese sind es, die da aus der grossen Trübsal kommen sind und haben ihre Röcke gewaschen und haben ihre KIeider mit dem Blut des Lamms weiss gemacht. Es wird sie nicht mehr hungern, es wird sie auch nicht mehr dürsten. Auch wird nicht auf sie die Sonne oder einige Hitze fallen (lies Verfolgung). Denn das Lamm das vor dem Throne ist, wird sie weiden und sie leiten zu den lebendigen Wasserbrunnen. Und Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen. Und der Tod wird nicht mehr seyn. Es wird auch weder Leyd, noch Geschrey, noch Schmerzen mehr seyn: Denn das erste ist vergangen. Und der auf dem Thron sass, hat gesprochen: Siehe ICH mache alles neu. Es ist geschehen. ICH bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Wer überwindet, der wird alles ererben und ICH werde sein Gott seyn und er wird mein Sohn seyn.»



Benutzte Quellen und Literatur:

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Familienarchiv Escher:

a) Dokument der russischen Privilegien. Undatiert.

b) Tagebuch Friedrich Ludwig Escher. 1801-1804.

c) Briefentwürfe Hans Caspar Eschers an Baron von Anstedt und Baron von Bühler. 1803.

d) Verteidigungsschrift für den Vater H. C. E. von Friedrich Ludwig Escher. 1808.e) Die darin enthaltenen Rechtfertigungsbriefe an das russische Innenministerium von Hans Caspar Escher. f) Briefe Friedrich Ludwigs an seine Mutter und Schwester in Zürich. 1808.

g) Friedrich Ludwig: Ueber die Errichtung einer Baumwollenfabrik in der Krimm. Undatiert.

Pfarrbücher der Gemeinden Aeugst, Affoltern, Bonstetten, Hausen, Mettmenstetten, Ottenbach.

Zürcherische Hülfsgesellschaft. Neujahrsblatt 1821.

G. Meyer von Knonau: Der Ct. Zürich. 2. Ausgabe von 1844. Neujahrsblatt zum Besten des Waisenhauses. 1848.

H. Brandenberger. Das Knonauer Amt. 1924.

Prof. Leo Weisz: Schweizer in Taurien: N. Z. Z. vom 21. V. 1931, Nr. 966.

J. Etterlin: Russland-Schweizer und das Ende ihrer Wirksamkeit. 1938. 2. Ausgabe.

Prof. P. Kläui: Geschichte von Obfelden. 1947.

Walther Kirchner: Emigration to Russia (The American Historical Review 1950).

Prof. J. Künzig: In Syntagma Friburgense. Zürichtal und Schaba, zwei Schweizer Bauerndörfer im Schwarzmeergebiet. 1956.

Auskünfte der astronomisch-meteorologischen Anstalt der Universität Basel betr. des Wetters 1803, 1804.

Familiennamenbuch der Schweiz, Ausgabe 1940.