Zurück - Hauptseite

Frau Vrene - Die Sage vom Hexengraben

Quelle: http://www.gutenberg.org/etext/12012

Buchtitel: Rochholz, E. L. (Ernst Ludwig) (1809-1892): Drei Gaugöttinnen

Nachfolgende eigenthümliche Sage hierüber beruht auf der schriftl. Mittheilung, die wir dem Hn. Heinr. Gessner, Lehrer in zürch. Lunnern, zu verdanken haben. Bei letztgenanntem Orte im Bezirk Affoltern liegt am südlichen Fusse des Albis der unheimliche Türlersee, der tiefste im ganzen Zürcher Lande. Seinen Namen hat er von seiner Lage, da er an des Berges Engpasse und Thore: turilin, gelegen ist. Er sammt der Umgegend gehörte in der Vorzeit einer starken, herrischen und arbeitsrüstigen Frau an, die beim Volk Frau Vrene hiess. Da begab es sich, dass die Leute von Heferschwil, einem Weiler der Gemeinde Mettmenstetten, wegen einer fruchtbaren Gemarkung am Jungalbis mit dieser Frau in einen heftigen Eigenthumsstreit geriethen, der kein Ende nahm, weil sie in ihrem Stolze sich weigerte vor einem Richter des Landes zu erscheinen. Mit Hülfe fahrender Schüler zog sie in einer einzigen Nacht einen tiefen breiten Graben durch das ganze Jungalbis und schied so ihr Eigenthum für immer vom Gelände der Gegner. Der Graben war gezogen bis zum Türlersee, es fehlte nur noch der letzte Spatenstich, so würden die Wasser sich über ganz Heferschwil ergossen haben. In diesem Augenblick aber erfasste einer der fahrenden Schüler die Frau und entführte sie durch die Lüfte auf die Westseite des Glärnisch, setzte sie hier auf einer weiten grünenden Berghalde ab, wies ihr diese zum Aufenthalt an und sprach: "Hier kannst du gartnen, Vrene!" Dorten hat sie darnach so lange Zeiten gehaust, bis dieser schöne Alpengarten endlich sich in eine weite Firnstrecke verwandelte. Noch steht Frau Vrene daselbst, den Spaten in der Hand, zur Eissäule erstarrt, mitten in dem von Felsmauern eingefassten Schneefelde, das bis ins Knonauer Amt herüberblinkt.



Dieser eben erwähnte Graben am Jungalbis ( heute: "Hexengraben" ) ist rechtsgeschichtlich seit alter Zeit bekannt und trägt in der Offnung von Borsikon (Grimm, Weisthümer 1, S. 51) den auffallenden Namen Kriemhiltengraben. Nach einer zweiten hievon handelnden Volkssage, mitgetheilt in Meyer's Zürch. Ortsnamen no. 182, waren die Bewohner von Heferschwil mit jener Kriemhilt gleichfalls in Zwist gerathen, und die Erzürnte schwur, sie werde den Türlersee abgraben, seis nun Gott lieb oder leid. Durch einen kleinen Berg, der zwischen dem See und dem Weiler liegt, begann sie den Durchstich mit einer Schaufel, so gross wie ein Scheunenthor. Da erregte Gott einen gewaltigen Sturm, der ihre Schaufel zerbrach und sie selbst von der Erde fortriss bis auf den Glärnisch in Vrenelis Gärtli.



So reicht also die Verenasage in die unorganische primitive Steinzeit zurück. Der erratische Block, aus dem Verena die Neugebornen hervorholen lässt; der Mühlstein, auf dem sie wilde Ströme befährt; die Felsklüfte, Hochalpen und Gletscher, die ihren Namen tragen; die heissen Sprudel, die sie aus dem Boden stampft und mit dem Finger aus der Rheininsel hervor bohrt—verkünden eine ursprüngliche Riesenjungfrau, deren roh angelegte Gestalt später ins Satanische umgeschlagen haben würde, hätte die Kirche sie nicht frühzeitig noch christianisiert. Statt der Heiligen besässe man alsdann eine alles versteinernde Hexe; oder statt der demüthig dienenden Priestermagd nur eine diebische Pfaffenkellnerin, die der Unterschlagung beschuldigt entspringt, über die ganze Breite des Thales setzt und ihre Fussspur drüben in die Felsenplatte der jenseitigen Thalwand eindrückt.